Die Brexit-Story

Ein herber Verlust für den Arzneimittelsektor in der EU

Remagen - 18.01.2019, 17:55 Uhr

Großbritannien am Scheideweg. Welche Auswirkungen hat der Brexit auf den Arzneimittelsektor? (s / Foto: imago)

Großbritannien am Scheideweg. Welche Auswirkungen hat der Brexit auf den Arzneimittelsektor? (s / Foto: imago)


Viele Europäer haben sich am Morgen des 24. Juni 2016 verstört die Augen gerieben und sich gedacht: Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ist es aber. Großbritannien verlässt die EU. Seitdem ist der Brexit auf EU-Ebene das Thema Nr. 1. Es spaltet zum Teil auch die verbleibenden 27 EU-Mitgliedstaaten. Außerdem ist UK nicht „irgendein“ Mitgliedstaat. Das gilt besonders für den Arzneimittelsektor. DAZ.online hat die ganze spannende Geschichte der vergangenen Monate noch einmal kurz aufgerollt.

Es war von Anfang an nicht die große Liebe zwischen den Briten und der EU. Bei dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahr 1957 waren sie noch nicht im Boot. Anträge auf Mitgliedschaft in den 60er Jahren scheiterten am Veto des damaligen französischen Präsidenten Charles de Gaulle, der meinte, Großbritannien passe nicht in die EWG. Der Beitritt gelang schließlich im Jahr 1973, doch sowohl in den 70ern als auch in den 80er- und den 90er-Jahren forderten Parteien aus verschiedenen Lagern immer wieder den Austritt.

Regelungen dazu gibt es übrigens erst seit dem Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist (Artikel 50 AEU-Vertrag). Davor war ein einseitig beschlossener Austritt praktisch nicht möglich.

Eine ganz einfache Frage

In den letzten Jahren nahm die EU-skeptische Grundstimmung in UK weiter zu, und es kam schließlich zu dem schicksalshaften Referendum vom 23. Juni 2016. Vielleicht wäre dieses anders ausgegangen, wenn die glühenden Verfechter eines eigenständigen Vereinigten Königreichs die Bürger etwas genauer über die Folgen des Austritts aufgeklärt hätten. Die Frage: „Mitglied der Europäischen Union bleiben“ und „Die Europäische Union verlassen“ lässt sich ganz einfach „aus dem Bauch heraus“ beantworten. Immerhin gaben rund 33,5 Millionen Wahlberechtigte (72,2 Prozent) ihre Stimme ab. Der Ausgang war mit knapp 52 Prozent pro Austritt und etwa 48 Prozent dagegen denkbar knapp.

Zweijahres-Countdown eingeleitet

Am 29. März 2017 leitete die britische Premierministerin Theresa May den Austrittsprozess gemäß Artikel 50 AEUV in die Wege. Danach hatten Großbritannien und die EU27 nach den Vorgaben des Vertrags zwei Jahre Zeit, um die Modalitäten des Austritts auszuhandeln. Kommt in dieser Zeit kein Abkommen zustande, so ist Großbritannien am 30. März 2019 automatisch ein Drittstaat. Die Reaktionen in Europa und seitens der EU waren von Beginn an eindeutig: keine „Rosinenpickerei“ beim Abkommen und Härte in den Brexitverhandlungen, auch um Nachahmer in der verbleibenden EU abzuschrecken.

Hin und her zwischen „hartem“ und „weichem“ Brexit

Das Ganze entwickelte sich schleppend. Nachdem May im Januar 2017 zunächst einen Plan für einen „harten Brexit“ vorsah – das heißt: keine EU-Teil- oder assoziierte Mitgliedschaft, Ausscheiden aus dem europäischen Binnenmarkt, der Zollunion und dem Europäischen Gerichtshof – wurde sie in der ersten Jahreshälfte 2018 mit der Idee einer Freihandelszone mit der Europäischen Union vorstellig, die in Großbritannien als „weicher Brexit“ angesehen wurde. Obwohl die Verhandlungen über das Austrittsabkommen eigentlich bis Oktober 2018 abgeschlossen sein sollten, präsentierten die Europäische Kommission und die britische Regierung erst am 14. November 2018 einen offiziellen Entwurf dafür.  

Krachende Niederlage

Der Europäische Rat billigte diesen am 25. November 2018. Nun mussten noch das Parlament des Vereinigten Königreichs und das Europäische Parlament zustimmen. Weil sie eine Schlappe befürchtete, sagte die britische Regierung die für den 11. Dezember 2018 terminierte Unterhaus-Abstimmung über die Annahme des Austrittsabkommens kurzfristig ab und verschob sie auf den 15. Januar 2019. Dann kam vor wenigen Tagen das von vielen Experten erwartete Debakel. Das Austrittsabkommen wurde mit einer deutlichen Mehrheit (432 zu 202 Stimmen) abgelehnt. Damit erübrigt sich auch die Abstimmung im Europäischen Parlament, die für Januar 2019 vorgesehen war.

Machen die Briten noch einen Rückzieher vom Brexit?

Was nun? Zwar haben die EU-Kommission und die britische Regierung im Rahmen des Austrittsabkommens eine Übergangszeit bis zum 31. Dezember 2020 vereinbart, aber: ohne Austrittsabkommen keine Übergangsperiode. Großbritannien könnte seinen Antrag auf Ausscheiden aus der Europäischen Union vor dem Austrittsdatum immer noch einseitig zurückziehen. Diesen Weg hat der Europäische Gerichtshof in einem Urteil im Dezember eröffnet.

Wenn sich alle einig sind, wäre nach dem EU-Recht auch eine Verschiebung des Brexits möglich. Wie auch immer, die Uhr tickt unaufhörlich weiter, und sollten diese Optionen nicht genutzt werden, ist am 30. März 2019 endgültig „Feierabend“. 

Jeden Monat 82 Millionen Arzneimittelpackungen

Mit einem Brexit verliert die EU ihre zweitgrößte Volkswirtschaft, den Mitgliedstaat mit der drittgrößten Bevölkerung und den drittgrößte Nettozahler. Die Auswirkungen auf den Arzneimittelsektor sind gravierend. Nach Angaben des europäischen Dachverbandes der forschenden Pharmaunternehmen EFPIA von November 2017 verlassen jeden Monat 45 Millionen in UK hergestellte Packungen das Land in Richtung EU. 37 Millionen werden aus der EU dorthin geliefert. 1.300 Präparate werden in Großbritannien getestet und für das Inverkehrbringen in der EU freigegeben, und es laufen 1.500 klinische Studien mit einem Sponsor in UK. Dort werden außerdem 70 Prozent der klinischen Prüfpräparate freigegeben.

EU-Arzneimittelbehörden müssen Lücken füllen

Die britische Arzneimittelbehörde MHRA hat von jeher eine wichtige Rolle in der Koordinierung europäischer Zulassungs-und Pharmakovigilanz-Verfahren gespielt. Ihre Arbeit muss nach dem Ausscheiden von UK aus der EU auf den Schultern der anderen Mitgliedstaaten verteilt werden. Zahlreiche Inhaber europäischer Zulassungen mussten die notwendigen regulatorischen Schritte unternehmen, um die Verkehrsfähigkeit ihrer Produkte in der EU weiter abzusichern, sei es durch die Übertragung der Zulassung in einen der verbleibenden 27 Mitgliedstaaten, die Verlagerung bestimmter Produktionsstätten, eine Änderung der sachkundigen Person für Pharmakovigilanz (QPPV), die Verlagerung ihres Pharmakovigilanz-System-Masterfiles (PSMF) oder durch die Anpassung der Logistik und der Supply chain.

Arzneimittelversorgung gesichert?

Diese Umstellungen bedrohen ganz konkret die Arzneimittelversorgung in der EU und in Großbritannien. Eine Umfrage der EMA im Januar 2018 ließ die Alarmglocken läuten. Für 108 (88 Human-und 20 Tierarzneimittel) der fast 700 vom Brexit betroffenen zentralen Zulassungen (CAPs) hatte die Agentur ernsthafte Bedenken, dass die notwendigen Umstellungen noch rechtzeitig vor dem Austritt Großbritanniens aus der EU klappen könnten. Lieferengpässe oder Ausfälle bei diesen Arzneimitteln, viele davon gegen schwere Erkrankungen, wären die unweigerliche Folge. Im September wurde dann Teilentwarnung gegeben und die Anzahl der CAPs, deren Verfügbarkeit in Europa durch den Brexit bedroht könnte, von 108 auf 39 gesenkt.

In der Zwischenzeit haben noch mehr Zulassungsinhaber ihre Hausaufgaben gemacht, so dass sich die Lage wohl etwas entspannt hat.

EMA geht nach einem Losentscheid nach Amsterdam

Das beherrschende Thema im Nachgang zum Brexit-Referendum war jedoch zunächst die notwenige Verlegung der Europäischen Arzneimittelagentur. In London kann die EMA danach nicht mehr bleiben. Als am 20. November 2017 die Entscheidung zugunsten der niederländischen Stadt Amsterdam fiel, herrschte vielerorts Erleichterung, gelten doch die Niederländer als weltoffen, regulatorisch versiert und gut organisiert. Dennoch hat sie einen faden Beigeschmack, denn am Ende des hochkomplexen und aufwändigen Auswahlprozesses entschied das Los, und zwar zum Nachteil von Mailand, das in den zwei Vorrunden der dreistufigen Wahl die höchste Punkteanzahl bekommen hatte.

Ohne eine vorübergehende Einschränkung der Aktivitäten werde der Umzug nicht von statten gehen können, hat die Agentur mehrfach betont und vorausschauend einen „Business Continuity Plan“ aufgelegt. Zunächst geht es mal in ein Übergangsdomizil in Amsterdam, denn das neue „Vivaldi-Gebäude“ soll erst im November 2019 fertiggestellt sein. Eigentlich müssten jetzt schon die Umzugswagen rollen. Gehört hat man davon aktuell noch nichts.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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