Neue Volkskrankheit?

Kreidezähne – was Apotheker wissen müssen

Stuttgart - 07.09.2018, 15:30 Uhr

Symbolbild: Bei Kreidezähnen muss laut DGZMK über das Zähneputzen hinaus eine besonders intensive Prophylaxe betrieben werden, um die Zähne vor Karies zu schützen (Fluoridierungsmaßnahmen). ( r / Foto:DGZMK)

Symbolbild: Bei Kreidezähnen muss laut DGZMK über das Zähneputzen hinaus eine besonders intensive Prophylaxe betrieben werden, um die Zähne vor Karies zu schützen (Fluoridierungsmaßnahmen). ( r / Foto:DGZMK)


Was ist die sogenannte Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH), auf die die DGZMK aufmerksam machen möchte und die auch unter dem Begriff „Kreidezähne“ bekannt ist? Im Mai 2018 nannte die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde in einer Pressemitteilung Kreidezähne eine „neue Volkskrankheit“. Sind Kreidezähne ein größeres Problem als Karies?

Die Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) ist „eine systemisch bedingte Strukturanomalie primär des Schmelzes“, heißt es in der Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) aus dem Mai 2018. Sie tritt an einem oder bis zu allen vier ersten bleibenden Molaren (Backenzähnen) auf. Häufig sollen auch die bleibenden Frontzähne und zunehmend auch die zweiten Milchmolaren diese Fehlstrukturierung aufweisen.

Im praktischen Alltag fällt auf, dass die Mineralisationsstörung sich auf einen einzelnen Höcker beschränkt oder aber die gesamte Oberfläche der Zähne betreffen kann. Die milde Form der MIH soll eher weiß-gelbliche oder gelb-braune, unregelmäßige Opazitäten im Bereich der Kauflächen und/oder Höcker zeigen. Die schweren Formen der Zahnentwicklungsstörung weisen abgesplitterte oder fehlende Schmelz- und/oder Dentinareale unterschiedlichen Ausmaßes auf. Die Zähne brechen teilweise mit diesen Veränderungen in die Mundhöhle durch und können sehr sensibel auf Kälte und Zähneputzen reagieren.

Ein größeres Problem als Karies?

Laut Duden ist eine Volkskrankheit eine Krankheit von dauernder starker Verbreitung und Auswirkung in der gesamten Bevölkerung. MIH soll erstmals vor 1987 beschrieben worden sein. Aktuelle Studien aus Deutschland zeigen laut DGZMK, dass im Durchschnitt etwa 10 bis 15 Prozent der Kinder an MIH beziehungswei Kreidezähnen leiden. Unter den zwölfjährigen Kindern sollen sogar über knapp 30 Prozent diese Strukturanomalie besitzen. Bezogen auf die Mundgesundheit und die Lebensqualität der Kinder sei MIH in dieser Altersgruppe mittlerweile ein größeres Problem als Karies.

Ursachen weitgehend unbekannt

Die Ätiologie beschreibt die DGZMK als „weitgehend ungeklärt“. Weil die Schmelzentwicklung der ersten Molaren und der Inzisivi (Schneidezähne) aber zwischen dem achten Schwangerschaftsmonat und dem vierten Lebensjahr stattfindet, gehe man davon aus, dass die Störung auch in dieser Zeitspanne auftreten muss.

Wahrscheinlich handelt es sich um ein Zusammenspiel mehrerer Ursachen. Potenziell könnten Probleme während der Schwangerschaft, Infektionskrankheiten, Antibiotikagaben, Windpocken, Einflüsse durch Dioxine sowie Erkrankungen der oberen Luftwege in Betracht kommen. Aufgrund von Tierversuchen soll ein Zusammenhang zwischen dem Bisphenol-A-Konsum und der Entwicklung von Kreidezähnen nachgewiesen worden sein. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hält den Zusammenhang zwischen Kreidezähnen bei Kindern und der Aufnahme von Bisphenol A nach derzeitigem Wissensstand jedoch für „unwahrscheinlich“, wie es in einer Mitteilung vom 3. August 2018 heißt.

Bisphenol A wahrscheinlich nicht schuld? 

Seit 2011 sei BPA (Bisphenol A) für die Herstellung von Säuglingsflaschen verboten, schreibt das BfR in seiner Mitteilung. Die Tierstudie, die einen Zusammenhang zwischen Kreidezähnen und BPA gezeigt haben soll, zeigt nach Meinung des BfR aber, „dass es keinen gesicherten Zusammenhang zwischen der Aufnahme von BPA über Lebensmittelkontaktmaterialien und der Entstehung von MIH bei Kindern gibt“.

Das BfR begründet das mit „neueren Daten aus den Niederlanden“. Demnach betrage die orale Aufnahme von BPA bei Kindern in der stark exponierten Gruppe 0,14 µg pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag und sei damit 35-fach niedriger als die Dosis, die im Tierversuch verwendet wurde. Berücksichtige man also die tatsächliche Aufnahme von BPA durch den Menschen und toxikokinetische Unterschiede zwischen Ratte und Mensch in der neonatalen Phase, erscheine ein direkter Zusammenhang zwischen BPA und MIH für den Menschen unwahrscheinlich. 

Bisphenol A (BPA)

BPA wird vor allem als Ausgangssubstanz für die Herstellung von Polycarbonat-Kunststoffen und Kunstharzen verwendet (Industriechemikalie: 2,2-Bis(4-hydroxyphenyl)propan). Polycarbonat wird für die Herstellung von Behältern und Flaschen für Lebensmittel und Getränke verwendet. Eine weitere Quelle für Bisphenol A sind beispielsweise Kassenbons, Fahrkarten oder Parktickets. BPA wird als Farbbildner in diesen sogenannten Thermopapieren eingesetzt. Diese Verwendung wird ab Januar 2020 verboten sein.

Unbedenklich ist BPA laut BfR nicht:

„Im Juli 2016 wurde Bisphenol A als reproduktionstoxisch (Kategorie 1B nach der CLP-Verordnung) eingestuft und aufgrund dieser Einstufung im Januar 2017 als besonders besorgniserregende Substanz (SVHC) nach der REACH-Verordnung identifiziert. Im Juni 2017 erfolgte für den Stoff eine erneute SVHC-Identifizierung aufgrund seiner Eigenschaften als sogenannter „Endokriner Disruptor“ für die menschliche Gesundheit. Als endokrine Disruptoren werden hormonell schädigende Stoffe bezeichnet.“

Auch das BfR geht bei der Enstehung von Kreidezähnen von einem „multifaktoriellen Geschehen“ aus: Epidemiologische Studien sollen unter anderem auf Erkrankungen der Mutter im letzten Schwangerschaftsviertel, Komplikationen bei der Geburt oder häufige Erkrankungen des Kindes in den ersten Lebensjahren (vor allem verbunden mit hohem Fieber) hinweisen. Auch ein zu niedriger Vitamin-D-Blutspiegel oder eine frühe Aufnahme des Antibiotikums Amoxicillin werden laut BfR diskutiert.

Das BfR bringt zudem einen weiteren bekannten verdächtigen Stoff ins Spiel: Studien sollen über Zusammenhänge zwischen MIH und einer erhöhten Exposition gegenüber Dioxin berichten. Menschen, die in Seveso („Sevesounglück“) im Alter von unter fünf Jahren hohe Serumspiegel des Dioxins Tetrachlordibenzodioxin (TCDD) aufwiesen, zeigten später eine erhöhte Prävalenz für MIH. 

Leidensdruck und Prophylaxe: Tipps für die Apotheke

Kreidezähne belasten die Patienten, weil die betroffenen Molaren häufig empfindlich auf mechanische, thermische und chemische Reize sein können. Erklärt wird dies laut DGZMK durch eine chronische Entzündung der Pulpa (Innenraum der Zähne), die durch die erhöhte Porosität des Schmelzes bedingt werden soll. Die Patienten klagen über Schmerzen beim Trinken, Essen und Zähneputzen. Dies beeinträchtige die Lebensqualität der jungen Patienten und erschwere die Behandlung beim Zahnarzt. Ein schnelles therapeutisches Eingreifen sei aber dringend geboten. Die Art der Behandlung hängt dabei vom Grad der Erkrankung ab. Das neu entwickelte Würzburger MIH-Konzept soll den Zahnärzten bei der Behandlung helfen (MIH-Treatment Need Index).

Keine Prävention aber Propyhlaxe

Weil eine Prävention von MIH noch nicht möglich ist, ist es wichtig zu bedenken, dass die betroffenen Zähne eine raue Oberfläche besitzen und zerfurcht sind. Das Kariesrisiko steigt also, während die Reinigung der Kreidezähne zusätzlich schwer fällt. Deshalb muss laut DGZMK über das Zähneputzen hinaus eine besonders intensive Prophylaxe betrieben werden, um die Zähne vor Karies zu schützen (Fluoridierungsmaßnahmen).

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Für Kinder unter sechs Jahren empfiehlt die DGZMK „dringend“ die täglich zweimalige Anwendung einer fluoridhaltigen Kinderzahnpasta, (unter zwei Jahren: zweimal täglich nur eine sehr kleine Menge (Tubenabstrich), ab dem zweiten Geburtstag jeweils eine erbsengroße Menge). Die Eltern müssten zusätzlich darauf achten, dass die Zahnpasta intensiv in Kontakt mit den geschädigten Zähnen kommt. Darüber hinaus empfiehlt die DGZMK die Verwendung von fluoridhaltigem Speisesalz. Eine viertel- bis halbjährliche Vorstellung in der Zahnarztpraxis sei wichtig.

Ab dem Durchbruch der ersten bleibenden Zähne sollte das Kind zweimal täglich eine Junior- oder Erwachsenenzahnpasta mit höherer Fluorid-Konzentration verwenden, (Verwendung von fluoridiertem Speisesalz unverändert). Zusätzlich kann zweimal täglich eine fluoridhaltige Mundspüllösung oder einmal wöchentlich ein hoch konzentriertes Fluorid-Gelee angewendet werden.

Sobald die Zähne vollständig durchgebrochen sind und das Kind zu etwas längeren Behandlungen durch den Zahnarzt bereit sei, könne dieser die Zähne mit unterschiedlichen Techniken wieder aufbauen. Das Kariesrisiko sei dann nicht mehr erhöht. 



Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
redaktion@daz.online


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