Lancet-Publikation

Primärprävention: Niedrigdosis-ASS nützt Herzgesunden offenbar wenig

Berlin - 30.08.2018, 11:30 Uhr

Der Nutzen von 100 Millligramm ASS zur Primärprävention von Herzinfarkt & Co ist neueren Erkenntnissen zufolge gering. (c / Foto: Sherry Young (/ stock.adobe.com)

Der Nutzen von 100 Millligramm ASS zur Primärprävention von Herzinfarkt & Co ist neueren Erkenntnissen zufolge gering. (c / Foto: Sherry Young (/ stock.adobe.com)


Schützt Acetylsalicylsäure auch Gesunde „auf Verdacht“ vor Herzinfarkt? Einer aktuellen Studie zufolge haben 100 Milligramm ASS zur Primärprävention bei Nicht-Diabetikern mit moderatem Risiko keinen kardioprotektiven Nutzen. Die Ergebnisse sind jedoch nicht auf Hochrisikopatienten zu übertragen, die bereits ein kardiovaskuläres Ereignis erlitten haben oder Diabetiker sind.

Einmal täglich 100 Milligramm Acetylsalicylsäure (ASS) für kardiologische Patienten, die bereits einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten haben, ist seit Jahrzehnten Standard. Da liegt der Gedanke nahe, Patienten vor dem Infarkt zu schützen, bevor dieser erstmals auftritt. Der Nutzen von ASS zur Primärprophylaxe für Patienten mit moderatem Risiko ist jedoch bisher nicht eindeutig belegt.

Auf dem diesjährigen europäischen Kardiologenkongress (ESC) in München wurde eine placebokontrollierte, multizentrische Studie vorgestellt, die den Nutzen von ASS zur Primärprävention kardiovaskulärer Ereignisse bei dieser Zielgruppe untersuchte. Den Ergebnissen der ARRIVE-Studie zufolge, die im Fachjournal Lancet publiziert wurden, lag der kardioprotektive Effekt des altbekannten Thrombozytenaggregationshemmers auf Placeboniveau.

Kein Nutzen – mehr gastrointestinale Blutungen

Dazu beobachtete das internationale Forscherteam um Prof. Michael Gaziano aus Boston 12.546 Patienten über durchschnittlich 60 Monate. Die Hälfte der Patienten bekam einmal täglich 100 Milligramm ASS, die anderen erhielten Placebo. Zu den Einschlusskriterien gehörten ein Mindestalter von 55 Jahren für männliche Patienten und von 60 Jahren bei den Frauen. Außerdem war die Studienpopulation durch ein moderates Herz-Kreislauf-Risiko charakterisiert, welches durch das Vorliegen der folgenden Risikofaktoren definiert war: Erhöhtes Gesamtcholesterin (Männer > 200 mg/dl, Frauen > 240 mg/dl), Hypertonie (systolischer Blutdruck > 140 mmHg), Rauchen oder eine positive Familienanamnese für kardiovaskuläre Erkrankungen. Hochrisiko-Patienten, die bereits ein kardiovaskuläres Ereignis erlitten oder Diabetes hatten, waren dagegen ausgeschlossen.

Der primäre Wirksamkeitsendpunkt war die Kombination von kardiovaskulär bedingtem Tod, Herzinfarkt, instabiler Angina pectoris, Schlaganfall oder transienter ischämischer Attacke (TIA). Dieser Kombinationsendpunkt trat in der ASS-Gruppe bei 4,29 Prozent, in der Placebo-Gruppe bei 4,48 Prozent der Patienten auf. Der Unterschied zwischen den Gruppen war statistisch nicht signifikant (p = 0,6038).

Gastrointestinale Blutungen, überwiegend leichte, traten in der ASS-Gruppe bei 0,97 Prozent der Patienten mit ASS auf, in der Kontrollgruppe bei 0,46 Prozent. Dieser Unterschied war signifikant (Hazard Ratio: 2,11; 95 Prozent CI: 1,36 – 3,28; p = 0,0007). Insgesamt betrachtet traten in beiden Gruppen etwa gleich viele Nebenwirkungen und Todesfälle auf.

Keine Pauschalisierung der Ergebnisse

Auf den ersten Blick scheint das Ergebnis klar, doch für die Autoren ist die Kernfrage, ob sich ASS zur Primärprävention bei mittlerem Risiko eignet, noch nicht abschließend beantwortet. Denn die absoluten Ereignisraten seien insgesamt zu gering ausgefallen, so dass es sich eher um Niedrigrisikopatienten und nicht um Patienten mit mittlerem Risiko gehandelt habe. Doch diese Patientengruppe wäre für die Forscher von Interesse gewesen, weil bei dieser die Indikation der Nutzen unklar sei. Bei geringem Risiko würde man von der prophyplaktischen Plättchenhemmergabe ohnehin absehen. Dagegen ist der Stellenwert von Niedrigdosis-ASS für Hochrisiko-Patienten, die bereits ein kardiovaskuläres Ereignis erlitten haben, von den Ergebnissen unberührt.

Diabetiker profitieren, aber bluten mehr

Doch wie sieht es bei erhöhtem Risiko aus, wie es etwa bei Diabetikern vorliegt? Auf dem ESC-Kongress wurde noch eine weitere ASS-Studie präsentiert, und zwar die ASCEND-Studie, bei der 15.480 Patienten mit Diabetes mellitus, aber ohne kardiovaskuläre Vorerkrankung 7,4 Jahre lang beobachtet wurden. Die Hälfte der Patienten erhielt 100 Milligramm ASS, die anderen Placebo. Außerdem war die Einnahme von Statinen und Antihypertensiva bei diesem Patientenkollektiv stark verbreitet.

Als primärer Wirksamkeitsendpunkt war das erstmalige Auftreten eines vaskulären Ereignisses wie Herzinfarkt, Schlaganfall, TIA oder vaskulär bedingter Tod definiert. Unter ASS war das Risiko für diesen Kombinationsendpunkt um 12 Prozent vermindert (p = 0,01). Dieser präventive Nutzen wurde jedoch mit einer relativen Zunahme schwerer Blutungen um 29 Prozent erkauft.

Die Ergebnisse nehmen es Medizinern nicht ab, vor dem Beginn einer Primärprävention mit ASS eine patientenindividuelle Nutzen-Risikoabwägung durchzuführen. Das individuelle Blutungsrisiko kann sich im Laufe des Lebens durch das Auftreten weiterer Erkrankungen oder die Einnahme zusätzlicher Medikamente verändern. Hier spielt der Apotheker eine wichtige Rolle und kann dem Arzt und den Patienten beratend zur Seite stehen.



Dr. Bettina Jung, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online
redaktion@daz.online


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