Die Sorgen des EMA-Chefs 

Brexit: 108 Arzneimittel könnten in der EU fehlen

Remagen - 15.08.2018, 14:45 Uhr

Der Chef der Europäischen Arzneimittelagentur Guido Rasi blickt dem Umzug seiner Behörde mit gemischten Gefühlen entgegen. (s / Foto: picture alliance / AP Images)

Der Chef der Europäischen Arzneimittelagentur Guido Rasi blickt dem Umzug seiner Behörde mit gemischten Gefühlen entgegen. (s / Foto: picture alliance / AP Images)


Der Chef der Europäischen Arzneimittelagentur Guido Rasi bangt wegen des Brexits um die Arzneimittelversorgung in der EU. Auch der Umzug bereitet ihm Kopfzerbrechen, weil mehr Personal abwandert als gedacht. In einem Gespräch mit der London-Korrespondentin des Handelsblatts plaudert Rasi aus dem Nähkästchen.

DAZ.online hat in jüngster Zeit mehrfach über die Sorgen und Befürchtungen hinsichtlich der Arzneimittelversorgung durch den Brexit berichtet. Auch die EMA selbst, die deswegen aus ihrer angestammten „Heimat“ in London nach Amsterdam ziehen muss, hält die Öffentlichkeit mit regelmäßigen Mitteilungen auf dem Laufenden darüber, wie es voran geht. Nun bewertet Guido Rasi, der die Europäische Zulassungsagentur seit 2011 führt, die Lage im Handelsblatt aus seiner persönlichen Sicht.   

Lieferausfälle für betroffene Patienten „eine Katastrophe“

Rasi verweist dabei unter anderem auf die Ergebnisse einer Umfrage zu den Folgen des Brexits für die Arzneimittelversorgung, die den Mediziner „sichtlich beunruhigen“, wie seine Interviewerin, die Handelsblatt-Korrespondentin Kerstin Leitel, es ausdrückt. Zum Hintergrund: Anfang dieses Jahres hatte die EMA 180 Inhaber von knapp 700 zentralen europäischen Zulassungen befragt. Alle sind entweder selbst in Großbritannien angesiedelt, betreiben dort ihre Qualitätskontrolle, Chargenfreigabe und/oder einen Import- oder Produktionsstandort, oder es gibt andere Sachverhalte, für die eine Residenzpflicht in der EU beziehungsweise im EWR besteht. Damit die Zulassung in der EU aufrechterhalten werden kann, müssen fristgerecht die notwendigen regulatorischen Umstellungen durchgeführt werden.

Bei 108 Arzneimitteln, davon 88 Human- und 20 Tierarzneimittel, hat die EMA laut Rasi in dieser Hinsicht ernsthafte Bedenken. Damit dürften diese Präparate auf einen Schlag nicht mehr in der Europäischen Union vermarktet werden. Lieferausfälle wären unausweichlich. „Für jeden Patienten, der seine Medikamente nicht bekommen kann, wäre das eine Katastrophe“, sagt der EMA-Chef dazu im Gespräch mit dem Handelsblatt. Er sei überrascht, wie viele der Pharmaunternehmen doch hoffen würden, dass sie sich nicht auf den Ernstfall vorbereiten müssen.

Ein weiteres Problem für die Branche, das das Handelsblatt thematisiert, ist die Zollabfertigung nach dem Brexit. Experten befürchteten strengere Zollvorschriften und -kontrollen, die möglicherweise die sensiblen Lieferketten stören könnten. Bei einigen Mitteln könnten schon Verzögerungen von wenigen Stunden dazu führen, dass sie nicht mehr verwendet werden können. Als Beispiele werden manche Impfstoffe oder radioaktiv markierte Kontrastmittel für die Diagnostik angeführt.

Viele Herausforderungen, aber auch positive Gedanken

Unter den Städten, die die europäische Arzneimittelbehörde gerne bei sich beherbergt hätten, zählte Amsterdam zu den Favoriten der EMA-Belegschaft. Trotzdem soll in den Fluren des modernen Hochhauses im Londoner Geschäftsviertel Canary Wharf keine große Vorfreude auf den Umzug zu spüren sein. „Ganz tief im Inneren wünschen wir uns vielleicht noch, dass wir doch bleiben können“, erzählt Rasi, „aber wir wissen, dass es unrealistisch ist. Und mittlerweile sind wir an einem Punkt angelangt, an dem es vermutlich schlimmer wäre zu bleiben als zu gehen“. 

Geht fast die Hälfte des Personals?

Gegen Amsterdam würden sich nur knapp 20 Prozent der insgesamt 900 Mitarbeiter entscheiden, habe die EMA einst geschätzt. „Das war wohl etwas zu optimistisch“, gibt Rasi heute zu. Er befürchtet, dass tatsächlich bis zu 44 Prozent der Belegschaft die Behörde verlassen. Einige seiner besten Mitarbeiter hätten bereits Angebote von britischen Pharmafirmen erhalten, lässt der langjährige EMA-Chef wissen. Andere seien zu anderen Behörden abgewandert oder in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Rasis aktuelle Prognose mag ein wenig erstaunen, hatte die Agentur doch erst vor wenigen Tagen in ihrer letzten Mitteilung zu den Vorbereitungen auf den Umzug „nur“ von rund einem Drittel gesprochen.

Der Umzug sei ein unglaublich komplexer Vorgang, berichtet Rasi im Handelsblatt weiter. Die Kosten dafür aus dem EMA-Budget veranschlagt er für dieses Jahr auf 15 Millionen und im kommenden Jahr auf 44 Millionen Euro. Im Arbeitsalltag kümmerten sich spezielle Teams um den Umzug. Schon vor vielen Monaten sei ein IT-Zentrum in Hamburg aufgebaut worden, um sicherzustellen, dass die Arbeit der EMA möglichst wenig gestört werde. Die IT-Fachleute blieben auch dort, selbst wenn mittlerweile weitere Teams in Amsterdam arbeiteten, sagt Rasi.

Wandel mit dem Umzug

Eines stimmt den EMA-Direktor bei all diesen Herausforderungen aber dennoch positiv. Dies sei die Resonanz auf die neu ausgeschriebenen Stellen bei der EMA in Amsterdam. Mehr als 3000 Bewerbungen sollen schon eingegangen sein, ein Vielfaches der Zahlen vergangener Jahre. Rasi sieht hierin eine Chance für seine Behörde: In der Vergangenheit sei vor allem das Wissen von Onkologen oder Pharmakologen gefragt gewesen. Da aber zunehmend neuartige Therapieformen und Wirkstoffe entwickelt würden, brauche die EMA heute viel mehr Expertise von Genetikern und Bioingenieuren, die sie nun einstellen könne. Ohne Brexit hätte er selbst eine Neuausrichtung der EMA starten müssen. Nun komme der Wandel mit dem Umzug. 



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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