DAZ.online-Miniserie „Jüdische Apotheker“ (1)

Der lange Weg der Emanzipation

Berlin - 10.08.2018, 17:45 Uhr

Durch den antisemitischen Terror während der NS-Zeit wurde die Entwicklung jüdischer Apotheker in Deutschland gestoppt. Aber was geschah davor? Wie viele jüdische Apotheker gab es? DAZ.online-Autorin Inken Rutz hat sich dieser Frage im ersten Teil der Miniserie über jüdische Apotheker gewidmet. (Foto: Imago)

Durch den antisemitischen Terror während der NS-Zeit wurde die Entwicklung jüdischer Apotheker in Deutschland gestoppt. Aber was geschah davor? Wie viele jüdische Apotheker gab es? DAZ.online-Autorin Inken Rutz hat sich dieser Frage im ersten Teil der Miniserie über jüdische Apotheker gewidmet. (Foto: Imago)


Jüdische Ärzte haben in Europa eine lange Tradition – jüdische Apotheker weniger. Die Pharmazie hat für junge Juden erst nach der Akademisierung im 19. Jahrhundert an Interesse gewonnen. Es folgte ein Kampf um Anerkennung und Emanzipation. Dieser lange Weg wurde jäh gestoppt durch den antisemitischen Terror der NS-Zeit. Teil 1 der DAZ.online-Miniserie „Jüdische Apotheker“ zeichnet die Bedingungen vor 1933 nach.

Prag im 16. Jahrhundert: Die ansässigen jüdischen Familien konnten bis zum Ende des Jahrhunderts Arzneimittel nur von Apothekern christlichen Glaubens beziehen. Da die dort verkauften Medikamente auch nicht koschere Grundlagen wie z.B. Schweinefett enthalten konnten, blieb als Ausweg, koschere Arzneimittel bei jüdischen Ärzten zu erwerben, die gleichzeitig quasi die Funktion des Apothekers übernahmen. Erst Ende des 16. Jahrhunderts wurde der erste jüdische Apotheker in Prag amtlich registriert.

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelte sich allmählich eine teilweise verwandtschaftlich verbundene jüdische Apothekerschaft in Prag aus. Jedoch ausschließlich Juden durften ihre Kunden sein, da es sowohl jüdischen Apothekern als auch jüdischen Ärzten verboten war, Christen zu behandeln. Diese Situation – typisch für die damalige Zeit in Europa – änderte sich erstmals 1783 durch das dem jüdischen Apotheker Hirschl Michl Jeiteles von Kaiser Joseph II. verliehene Apothekerdiplom und die Erlaubnis, von nun an Arzneien auch an Christen verkaufen zu dürfen. Einschränkend wurde jedoch angeordnet, dass Jeiteles einen christlichen Provisor anzustellen habe. Aus der sogenannten Judenapotheke war auf diese Weise eine „gewöhnliche“ Apotheke geworden – mit den oben genannten Einschränkungen aufgrund überlieferter Vorurteile gegenüber Juden, die einem für notwendig gehaltenen „Schutz der christlichen Bevölkerung“ dienen sollten.  

Situation der jüdischen Apotheker bis 1812

Frank Leimkugel beschreibt in seinem Buch „Wege jüdischer Apotheker“ neben der Situation der Prager jüdischen Apotheker weitere exemplarische Schicksale, die allesamt Beispiele für die komplizierte Situation der jüdischen Apotheker in der damaligen Zeit darstellen. So wird Moses Stenger als erster Jude genannt, dem 1592 in Deutschland – allerdings zusammen mit einem christlichen Apotheker – ein Apothekenprivileg verliehen worden sein soll. Leimkugel schränkt ein, dass auch im 17. und 18. Jahrhundert die Verleihung eines Apothekenprivileges an Juden die Ausnahme war. 

Apothekenprivilegien für Juden nur als Ausnahme, diese Situation hielt noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts an. Das Misstrauen, jüdische Apotheker könnten ihre christlichen Kunden vergiften, war ein Grund für die Einschränkungen. Ausschlaggebend war damals allerdings die reine religiöse Zugehörigkeit, denn – im Gegensatz zum Nationalsozialismus – waren konvertierte Juden von den Einschränkungen meist ausgenommen. Wenige Juden waren auf der anderen Seite damals am Apothekerberuf interessiert, denn es gab wenig Hoffnung, jemals eine eigene Apotheke führen zu dürfen. 

„Judenedikt“ von 1812 – Versuch der Gleichstellung der Juden

Vorreiter in Sachen bürgerlicher Gleichstellung von Juden mit Christen war Frankreich, das als erstes europäisches Land nach der Französischen Revolution Juden als „Bürger mit gleichen Rechten und Pflichten“ einstufte. Die Juden sollten sich nicht mehr als kollektive Nation innerhalb einer anderen Nation verstehen, sondern ihr Judentum auf rein konfessioneller Grundlage neu definieren. Als Neu-Bürger mussten sie im Gegenzug unter anderem Wehrdienst leisten. Die französischen Vorgaben wurden in den von Napoleon eroberten linksrheinischen Gebieten eingeführt und nach und nach von fast allen deutschen Staaten übernommen. 

Der Frage nach Anerkennung der Juden und Gleichstellung mit den Christen wurde in Preußen im Jahre 1812 mit dem „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ – dem sogenannten „Preußischen Judenedikt“ – begegnet. Das Edikt von Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. sollte die Juden zu Inländern und preußischen Staatsbürgern machen. Ziel war letztlich die Assimilation der Juden. Allerdings griffen die Regelungen nicht in allen gesellschaftlichen Bereichen und machte die Juden schon gar nicht zu politisch-religiös anerkannten Bürgern. 

Bürgerliche Rechte – aber keine wirkliche Gleichberechtigung

Auch nach dem „Preußischen Judenedikt“ konnten jüdische Apotheker keine Genehmigung zur Führung einer Apotheke erhalten. Daran änderte auch eine Einlassung des preußischen Staatsministers Freiherr von Altenstein aus dem Jahre 1821 nichts. Im Gegenteil, das Schreiben des Ministers zeigte nur die Vorurteile gegenüber jüdischen Apothekern: Juden sollten nur unter der Bedingung, dass mindestens zwei Apotheken am Ort vorhanden seien, zum Kauf von Apotheken zugelassen werden. Auf diese Art und Weise sollte dem Misstrauen der Bevölkerung und der Behörde begegnet werden. In Realität wurden weder Personal- noch Realkonzessionen an jüdische Apotheker vergeben.

Ein anderes Ministerial-Schreiben von 1840 macht die fast schon irrwitzige Lage deutlich: In diesem wurde die Nichtvergabe von Apothekenprivilegien begründet und gleichzeitig angegeben, dass es keine rechtlichen Gründe gäbe, die gegen eine Lizenzvergabe sprächen. Diese aus heutiger Sicht nicht nachvollziehbare Denkweise wurde mit einem anzunehmenden „eigennützigen Geschäftsgebaren“ jüdischer Apotheker begründet, dass eine umfangreiche polizeiliche Aufsicht erfordern würde, da es sonst „dem Publikum sehr gefährlich“ würde. Es sei deshalb nicht ratsam für den preußischen Staat. Die antisemitischen Vorurteile führten auf diese Weise zu einem Quasi-Niederlassungsverbot, dass durch Gesetze nicht begründet war. Die restlichen deutschen Staaten orientierten sich meist an Preußen. Ausnahme stellte das aufgeklärte Großherzogtum Hessen dar, in dem die Emanzipation faktisch umgesetzt war.  

Eigenverantwortliche Berufsausübung ab 1861

Der 5. Februar 1861 stellte einen Wendepunkt dar: Die Rechtsunsicherheit bezüglich der eigenverantwortlichen Berufsausübung jüdischer Apotheker wurde durch die Ministerialverfügung von Moritz August von Bethmann-Hollwegs beendet. Eindeutig wurde festgelegt, dass „denjenigen Juden, welche die formelle Qualification als Apotheker erworben haben, der selbstständige Betrieb respective die Verwaltung einer Apotheke nicht versagt werden darf“. Diese Verfügung änderte die Situation der jüdischen Apotheker spürbar. Überliefert ist, dass zahlreiche jüdische Apotheker, zunächst in Schlesien und dann auch im Raum Berlin, Apothekenprivilegien erwarben. Dennoch sollte es noch mehr als 30 Jahre dauern, bis 1892 die erste Realkonzession an einen Juden in Berlin vergeben wurde. 

Realkonzessionen waren sehr wertvoll für Apotheker. Eingeführt 1811 im preußischen Apothekenrecht konnte diese persönliche öffentlich-rechtliche Konzession verkauft oder vererbt werden und erlosch nicht nach dem Tod des Inhabers. Gleichzeitig war die Vergabe einer Realkonzession an ein öffentliches Bedürfnis gebunden – und wurde somit nur eingeschränkt an interessierte Apotheker vergeben. Im Gegensatz dazu erlosch die Personalkonzession nach dem Tod des Konzessionsinhabers, da sie an die Person direkt gebunden war. Das Konzessionierungsrecht galt grundsätzlich bis 1960, als es durch die einzig an die Approbation gebundene Niederlassungsfreiheit abgelöst wurde.  

Pharmaziestudium – Interesse am Apothekerberuf steigt

Anfang des 19. Jahrhunderts war der Beruf des Apothekers immer noch in erster Linie ein Handwerksberuf. Die fehlende Akademisierung verstärkte das damalige Desinteresse vieler Juden an diesem Beruf. Einzig in Bayern und Preußen gab es schon ein zweisemestriges Pflichtstudium zum „Apotheker 1. Klasse“. 1875 wurde schließlich reichseinheitlich das Studium der Pharmazie vorgeschrieben. Obwohl Juden schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts Medizin und andere Fächer studieren durften, blieb ihnen das Pharmaziestudium noch bis ins späte 19. Jahrhundert verwehrt. Danach stieg die Zahl der jüdischen Pharmaziestudierenden stetig an. Doch Intoleranz und Misstrauen gegenüber Apothekern jüdischen Glaubens war weiterhin weit verbreitet, begleitet von Missgunst wie im Fall des Erwerbs bekannter Berliner Apotheken durch jüdische Pharmazeuten. 

1899 wurden schließlich die ersten Frauen zum Pharmaziestudium zugelassen. Interessant ist die Tatsache, dass sich überproportional viele junge Jüdinnen für ein Pharmaziestudium entschieden. Insbesondere in Berlin war das so. Als Gründe werden angenommen, dass Bildung in jüdischen Familien auch für Mädchen als sehr wichtig erachtet wurde. Diese Tradition und die Aussicht durch ein Pharmaziestudium gute Aufstiegschancen geboten zu bekommen, führte zu den hohen Studierendenzahlen jüdischer Frauen im Fach Pharmazie.

Jüdische Apotheker in der Standespolitik bis 1933

Vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges war es noch kaum einem jüdischen Pharmazeuten gelungen, in der Standespolitik oder in der Fachliteratur beachtet zu werden. Eine der wenigen Ausnahmen war Siegfried Seligmann Mühsam (1838-1915), ein in Fachkreisen angesehener Apotheker, der unter anderem durch Fachpublikationen auf sich aufmerksam gemacht hatte. Mühsam hatte während seiner Zeit in Berlin öffentliche Ehrenämter übernommen. Zudem wurde er in Lübeck 1885 in die Bürgerschaft gewählt. Er war außerdem Mitglied der Prüfungsbehörde für Apothekergehilfen. Doch trotz all dieser Anerkennung war er – wie es Schilderungen seines Neffen Paul Mühsam zu entnehmen ist – sehr vorsichtig und versuchte in der Öffentlichkeit „sein Judentum geflissentlich zu verbergen“. 

Allgemein normalisierte sich erst nach Beendigung des Ersten Weltkrieges das Verhältnis von christlichen und jüdischen Apothekern. Der Anteil von Juden in der Standespolitik stieg stetig. Sie spielten zunehmend eine aktive und anerkannte Rolle. Ein Beispiel war Dr. Wilhelm Wartenberg (1868-1942), der ämterreichste Standesapotheker Deutschlands und Besitzer der Rothen Apotheke, der ältesten Apotheke Berlins. Er war unter anderem Vorsitzender des Berliner Apothekervereins und Kammervorsitzender der Berlin-Brandenburgischen Apothekerkammer. 

Jüdische Apotheker – Emanzipation gelungen?

Während ihrer gesamten Geschichte musste das Judentum immer wieder Verfolgungen und Ausgrenzungen erleben. Vorurteile und Missgunst der christlichen Mehrheitsbevölkerung in Europa waren Triebfedern des weitverbreiteten Antisemitismus. Der Weg der jüdischen Emanzipation führte zu diametral unterschiedlichen Reaktionen innerhalb der jüdischen Bevölkerung. Ein Teil der Juden beugte sich dem Assimilationsdruck nicht. Im Gegenteil, sie lebten ihren Glauben bewusst aus – teilweise waren sie überzeugte Zionisten. Viele versuchten sich aber der Mehrheitsgesellschaft anzupassen, nicht zu sehr aufzufallen oder gaben sogar dem Druck soweit nach, dass sie zum christlichen Glauben konvertierten oder ihre Namen in „christlich klingende“ Namen umwandeln ließen.

Auch unter den jüdischen Apothekern gab es die gesamte Bandbreite an Reaktionen. Leimkugel berichtet von einigen jüdischen Apothekern, die eigentlich aus frommen Kaufmannsfamilien stammten, sich aber nach dem Pharmaziestudium vom orthodoxen Judentum abwandten. Allgemein schienen die jüdischen Apothekerfamilien vorsichtig mit einem Bekenntnis zur Strenggläubigkeit zu sein, wenn auch jüdische Traditionen meist nicht verneint wurden. Leimkugel stellt fest: „Eine große Anzahl von Apothekerfamilien ist hingegen dem assimilierten Judentum zuzuordnen, was eine zunehmende Distanz zur Religion bedeutete.“ Viele scheinen sich damals hin und her gerissen gefühlt zu haben: „Man legte sein Glaubensbekenntnis nicht ab, stand aber auch nicht dazu“, so Leimkugels Resümee. 

Statistische Erhebungen 1912-1933

Bedingt durch das Fehlen statistischer Erhebungen zur Erfassung des Anteils von Akademikern jüdischen Glaubens in Deutschland, muss auf die wenigen Zahlen zurückgegriffen werden, die für den Zeitraum von 1912 bis 1933 vorliegen. Frank Leimkugel führt in seinem Buch „Wege jüdischer Apotheker“ an, dass 1912 65 von 268 Berliner Apotheken einen jüdischen Inhaber hatten. Bis 1925 stieg ihre Anzahl auf 109 und bis 1933 auf 131 Apotheken im jüdischen Besitz. Die von der nach 1933 gleichgeschalteten Standespresse beschworene „zunehmende Verjudung“ war dennoch irreführend, da der prozentuale Anteil mit 25 Prozent über die Jahre gleich geblieben war.  

Auf Gesamtdeutschland geschaut, gibt Leimkugel folgende Zahlen an: 1925 standen 6,9 Prozent aller deutschen Apotheken unter der Leitung eines jüdischen Apothekers. 1933 gab es in Deutschland insgesamt 657 tätige Apotheker jüdischen Glaubens. Das entsprach einem Anteil von 3,6 Prozent der deutschen Apothekerschaft.

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Hinweis der Redaktion:

Die Artikel-Serie „Jüdische Apotheker“ der DAZ.online bezieht sich unter anderem auf das Buch von Frank Leimkugel „Wege jüdischer Apotheker“ bezüglich der Situation in Deutschland und auf die Arbeit von Esther Hell „Jüdische Apotheker im Fadenkreuz“, das die Situation jüdischer Pharmazeuten in Hamburg analysiert. Exemplarische Schicksale jüdischer Apotheker werden auf Basis der bereits benannten Quellen und einzelner im Internet verfügbarer Quellen beschrieben.

Die Datenlage zur Situation jüdischer Apotheker in Deutschland rund um die NS-Zeit – Zeitraum der DAZ.online-Miniserie – ist allgemein lückenhaft. Bedingt durch die geschichtlichen Ereignisse sind Akten und Schriftstücke der damaligen Behörden und betreffenden Organisationen im größeren Umfang vernichtet worden bzw. verschollen. Den Arbeiten von Leimkugel und Hell liegen unter anderem die Auswertungen vorhandener Dokumente verschiedener Landes- und Stadtarchive, einzelner Archive zur pharmazeutischen Geschichte, des Leo Baeck Institutes zur Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums, des Amtes für Wiedergutmachung und der Entschädigungsbehörde Berlin zugrunde.



Inken Rutz, Apothekerin, Autorin DAZ.online
redaktion@daz.online


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