DAZ.online-Miniserie „Jüdische Apotheker“ (1)

Der lange Weg der Emanzipation

Berlin - 10.08.2018, 17:45 Uhr

Durch den antisemitischen Terror während der NS-Zeit wurde die Entwicklung jüdischer Apotheker in Deutschland gestoppt. Aber was geschah davor? Wie viele jüdische Apotheker gab es? DAZ.online-Autorin Inken Rutz hat sich dieser Frage im ersten Teil der Miniserie über jüdische Apotheker gewidmet. (Foto: Imago)

Durch den antisemitischen Terror während der NS-Zeit wurde die Entwicklung jüdischer Apotheker in Deutschland gestoppt. Aber was geschah davor? Wie viele jüdische Apotheker gab es? DAZ.online-Autorin Inken Rutz hat sich dieser Frage im ersten Teil der Miniserie über jüdische Apotheker gewidmet. (Foto: Imago)


Jüdische Apotheker in der Standespolitik bis 1933

Vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges war es noch kaum einem jüdischen Pharmazeuten gelungen, in der Standespolitik oder in der Fachliteratur beachtet zu werden. Eine der wenigen Ausnahmen war Siegfried Seligmann Mühsam (1838-1915), ein in Fachkreisen angesehener Apotheker, der unter anderem durch Fachpublikationen auf sich aufmerksam gemacht hatte. Mühsam hatte während seiner Zeit in Berlin öffentliche Ehrenämter übernommen. Zudem wurde er in Lübeck 1885 in die Bürgerschaft gewählt. Er war außerdem Mitglied der Prüfungsbehörde für Apothekergehilfen. Doch trotz all dieser Anerkennung war er – wie es Schilderungen seines Neffen Paul Mühsam zu entnehmen ist – sehr vorsichtig und versuchte in der Öffentlichkeit „sein Judentum geflissentlich zu verbergen“. 

Allgemein normalisierte sich erst nach Beendigung des Ersten Weltkrieges das Verhältnis von christlichen und jüdischen Apothekern. Der Anteil von Juden in der Standespolitik stieg stetig. Sie spielten zunehmend eine aktive und anerkannte Rolle. Ein Beispiel war Dr. Wilhelm Wartenberg (1868-1942), der ämterreichste Standesapotheker Deutschlands und Besitzer der Rothen Apotheke, der ältesten Apotheke Berlins. Er war unter anderem Vorsitzender des Berliner Apothekervereins und Kammervorsitzender der Berlin-Brandenburgischen Apothekerkammer. 

Jüdische Apotheker – Emanzipation gelungen?

Während ihrer gesamten Geschichte musste das Judentum immer wieder Verfolgungen und Ausgrenzungen erleben. Vorurteile und Missgunst der christlichen Mehrheitsbevölkerung in Europa waren Triebfedern des weitverbreiteten Antisemitismus. Der Weg der jüdischen Emanzipation führte zu diametral unterschiedlichen Reaktionen innerhalb der jüdischen Bevölkerung. Ein Teil der Juden beugte sich dem Assimilationsdruck nicht. Im Gegenteil, sie lebten ihren Glauben bewusst aus – teilweise waren sie überzeugte Zionisten. Viele versuchten sich aber der Mehrheitsgesellschaft anzupassen, nicht zu sehr aufzufallen oder gaben sogar dem Druck soweit nach, dass sie zum christlichen Glauben konvertierten oder ihre Namen in „christlich klingende“ Namen umwandeln ließen.

Auch unter den jüdischen Apothekern gab es die gesamte Bandbreite an Reaktionen. Leimkugel berichtet von einigen jüdischen Apothekern, die eigentlich aus frommen Kaufmannsfamilien stammten, sich aber nach dem Pharmaziestudium vom orthodoxen Judentum abwandten. Allgemein schienen die jüdischen Apothekerfamilien vorsichtig mit einem Bekenntnis zur Strenggläubigkeit zu sein, wenn auch jüdische Traditionen meist nicht verneint wurden. Leimkugel stellt fest: „Eine große Anzahl von Apothekerfamilien ist hingegen dem assimilierten Judentum zuzuordnen, was eine zunehmende Distanz zur Religion bedeutete.“ Viele scheinen sich damals hin und her gerissen gefühlt zu haben: „Man legte sein Glaubensbekenntnis nicht ab, stand aber auch nicht dazu“, so Leimkugels Resümee. 

Statistische Erhebungen 1912-1933

Bedingt durch das Fehlen statistischer Erhebungen zur Erfassung des Anteils von Akademikern jüdischen Glaubens in Deutschland, muss auf die wenigen Zahlen zurückgegriffen werden, die für den Zeitraum von 1912 bis 1933 vorliegen. Frank Leimkugel führt in seinem Buch „Wege jüdischer Apotheker“ an, dass 1912 65 von 268 Berliner Apotheken einen jüdischen Inhaber hatten. Bis 1925 stieg ihre Anzahl auf 109 und bis 1933 auf 131 Apotheken im jüdischen Besitz. Die von der nach 1933 gleichgeschalteten Standespresse beschworene „zunehmende Verjudung“ war dennoch irreführend, da der prozentuale Anteil mit 25 Prozent über die Jahre gleich geblieben war.  

Auf Gesamtdeutschland geschaut, gibt Leimkugel folgende Zahlen an: 1925 standen 6,9 Prozent aller deutschen Apotheken unter der Leitung eines jüdischen Apothekers. 1933 gab es in Deutschland insgesamt 657 tätige Apotheker jüdischen Glaubens. Das entsprach einem Anteil von 3,6 Prozent der deutschen Apothekerschaft.

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Hinweis der Redaktion:

Die Artikel-Serie „Jüdische Apotheker“ der DAZ.online bezieht sich unter anderem auf das Buch von Frank Leimkugel „Wege jüdischer Apotheker“ bezüglich der Situation in Deutschland und auf die Arbeit von Esther Hell „Jüdische Apotheker im Fadenkreuz“, das die Situation jüdischer Pharmazeuten in Hamburg analysiert. Exemplarische Schicksale jüdischer Apotheker werden auf Basis der bereits benannten Quellen und einzelner im Internet verfügbarer Quellen beschrieben.

Die Datenlage zur Situation jüdischer Apotheker in Deutschland rund um die NS-Zeit – Zeitraum der DAZ.online-Miniserie – ist allgemein lückenhaft. Bedingt durch die geschichtlichen Ereignisse sind Akten und Schriftstücke der damaligen Behörden und betreffenden Organisationen im größeren Umfang vernichtet worden bzw. verschollen. Den Arbeiten von Leimkugel und Hell liegen unter anderem die Auswertungen vorhandener Dokumente verschiedener Landes- und Stadtarchive, einzelner Archive zur pharmazeutischen Geschichte, des Leo Baeck Institutes zur Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums, des Amtes für Wiedergutmachung und der Entschädigungsbehörde Berlin zugrunde.



Inken Rutz, Apothekerin, Autorin DAZ.online
redaktion@daz.online


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