Pilotstudie

Suchtmedizin: Mit Cannabis gegen Opiat-Verlangen?

Berlin - 23.07.2018, 09:00 Uhr

Opiatentzug macht nervös und Marihuana beruhigt die Nerven. Forscher der LMU-München untersuchen, ob Cannabis in der Substitutionsmedizin eingesetzt werden könnte. (s / Foto: Imago)

Opiatentzug macht nervös und Marihuana beruhigt die Nerven. Forscher der LMU-München untersuchen, ob Cannabis in der Substitutionsmedizin eingesetzt werden könnte. (s / Foto: Imago)


Substitutionstherapie mal anders: Einer aktuellen Pilotstudie der Ludwig-Maximilians-Universität München zufolge könnte Cannabis bei Opiatabhängigen den Suchtdruck lindern. Da Cannabis eine höhere therapeutische Breite hat als etwa Methadon, sehen die Forscher ein mögliches Potenzial für die Hanfpflanze in der Suchtmedizin. Klinische Studien sind in Planung.

Etwa jeder zweite Opiat-Abhängige, der sich einer Substitutionstherapie unterzieht, raucht zusätzlich Cannabis. Zum Nach- oder sogar Vorteil? Und welche Folgen hat der Marihuana-Beikonsum auf die benötigte Methadonmenge und die Entzugssymptomatik? Diesen und weiteren Fragen sind Forscher der Ludwig-Maximilians-Universität München nachgegangen. Die Ergebnisse wurden Anfang Juli auf dem 19. Interdisziplinären Kongress für Suchtmedizin in München als Posterpräsentation vorgestellt.

In dieser Pilotstudie, die von dem kanadischen Cannabis-Produzenten Maricann finanziert wurde, untersuchten die Wissenschaftler bei opiatabhängigen Substitutionspatienten den Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum, Cannabinoid-Serumspiegeln und den benötigten Substitutionsdosen. Außerdem wurden die Studienteilnehmer mithilfe von validierten Fragebögen wie etwa der „Severity of Dependence Scale“ (SDS) oder der „Marijuana Motives Measure“ (MMM) zu ihrer Entzugssymptomatik und ihren Konsumgründen befragt.

Cannabis gegen Entzugssymptome

Von den 128 Substitutionspatienten konsumierten 53 Cannabis (42 Prozent), davon 43 täglich. Damit liegt der Anteil für den Beikonsum in dieser Erhebung geringfügig niedriger als in der Literatur beschrieben. Von diesen 53 Teilnehmern gab jeder zweite an, dass Cannabis den Suchtdruck (Craving) nach anderen Substanzen wie Alkohol, Benzodiazepine oder Opioide verringere. 61 Prozent berichten, dass ihr Stressempfinden mit Cannabis nachlasse und 79 Prozent gaben an, wegen innerer Unruhe zu kiffen. Rund die Hälfte der Befragten nannte die positive Auswirkung auf die Stimmungslage als Konsummotiv.

Einfluss auf Opiatbedarf inkonklusiv

Die Auswertung der Serumwerte bei den Cannabiskosumenten von Tehtrahydrocannabinolsäure (THC-COOH) und Cannabidiol (CBD) weisen auf eine Korrelation zu den berichteten Cannabiseffekten hin. So waren höhere THC-COOH und CBD-Werte mit niedrigeren Opioidäquivalenzdosen assoziiert. Beide Zusammenhänge waren statistisch signifikant. Allerdings sind die Ergebnisse auf den Opiatbedarf inkonklusiv. Denn die Gruppe der Cannabiskonsumenten benötigte insgesamt signifikant mehr Opioide als die 75 Teilnehmer, die kein Marihuana rauchten.

Überraschenderweise konnte in den Serumspiegeln der Konsumenten keine Korrelation zwischen den Cannabisdosen und der Höhe der Serumspiegel festgestellt werden. Dies könnte allerdings schwer zurückzuverfolgen sein, da die THC- und CBD-Gehälter in den Cannabisblüten ohnehin stark schwanken. Die Wissenschaftler wiesen zudem darauf hin, dass die Patienten auch individuell unterschiedliche Metabolisierungsgeschwindigkeiten aufweisen können.

Cannabis hat höhere therapeutische Breite als Methadon

Eine Droge soll also die Probleme einer anderen verringern können – treibt man damit den Teufel mit dem Beelzebub aus? Mediziner sind inzwischen von dem obligaten Therapieziel abgekommen, dass Substitutionspatienten eine totale Abstinenz erreichen müssen. Dies gilt nicht nur für das Substitutionsmittel, sondern auch für den Beikonsum anderer psychotroper Substanzen. Wichtiger ist es, die Lebensqualität zu verbessern und Komorbiditäten zu verringern.

Auch Studienleiter Professor Markus Backmund geht es bei seinem Konzept um eine Art Schadensbegrenzung. „Die Cannabispflanze ist im Vergleich zu anderen Suchtmitteln wie Alkohol oder Kokain relativ unschädlich“, erklärte Studienleiter Professor Markus Backmund in einer Pressemitteilung. Laut Wissenschaftlern der University of Pittsburgh Schools of Health Sciences sterben allein in den USA rund 170 Menschen pro Tag an einer Überdosierung, die auf verschreibungspflichtige Schmerzmittel zurückzuführen ist. Eine solche Überdosis-Krise sei mit Cannabis gar nicht möglich, betonte das Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin. Außerdem habe Cannabis eine höhere therapeutische Breite als Opioide wie beispielsweise Methadon. „Wenn wir einem Patienten eine zu hohe Dosis eines Opiats verabreichen, kann es sofort zu einem Atemstillstand kommen. Bei Cannabis haben wir nicht annähernd ein so hohes Risiko.“

Klinische Studien in Planung

Die in München vorgestellte Pilotstudie ist ein erster Hinweis darauf, dass Cannabis ein Potenzial in der Suchtmedizin haben könnte. Die Patientenzahl war gering. Ausgewertet wurde ein zufälliger Beikonsum. Um zu beurteilen, ob Cannabis bei Substitutionspatienten einen therapeutischen Effekt hat, wären klinische Interventionsstudien mit standardisierten Blüten oder Cannabisarzneimitteln erforderlich.

Für die Forscher dienen die Ergebnisse der Pilotstudie daher als Grundlage für weitere klinische Studien, die Maricann nach eigenen Angaben ebenfalls unterstützen wird. Das Design der Anschlussstudien sieht vor, dass den Teilnehmern Cannabis-basierte Medikamente mit unterschiedlichen Wirkstoffkonzentrationen verabreicht werden. Ziel ist es, die Wirkungsweise der Inhaltsstoffe im Körper zu untersuchen, um neue Therapieansätze zu entwickeln.



Dr. Bettina Jung, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online
redaktion@daz.online


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