DAZ.online-ErfahrungsBericht

Training für Einsatzkräfte: Apotheker ohne Grenzen helfen aus Leidenschaft

Berlin - 16.06.2018, 09:00 Uhr

Am Ende der AOG-Schulung in Stammheim waren alle Teilnehmer um wertvolle Erfahrungen reicher. (Foto: Neele Schedler/Apotheker ohne Grenzen)

Am Ende der AOG-Schulung in Stammheim waren alle Teilnehmer um wertvolle Erfahrungen reicher. (Foto: Neele Schedler/Apotheker ohne Grenzen)


Welche pharmazeutischen Probleme sind in einem Hilfseinsatz zu lösen? Wie finde ich mich auch ohne Navi in dünn besiedelten Gebieten zurecht? DAZ.online-Redakteurin Dr. Bettina Jung durfte an einer der Outdoor-Schulungen von Apotheker ohne Grenzen teilnehmen und gewann einen kleinen Einblick, welche Fähigkeiten Apotheker im Einsatz mitbringen müssen. Hier ist ihr Erfahrungsbericht:

Das Wetter bot einen Vorgeschmack auf tropische Länder. Drückende Hitze schlug mir entgegen, als ich am vergangenen Samstagmittag auf dem Gelände des Militärmuseums Stammheim ankam. Dort führte die Hilfsorganisation Apotheker ohne Grenzen (AOG) am zweiten Juniwochenende eine ihrer Schulungen für ihre Einsatzkräfte durch.

Dr. Thomas Bergmann, der zusammen mit Dr. Carina Vetye diese Schulungen leitet, hatte mich vom Bahnhof abgeholt und auf der Fahrt zum Trainingsgelände auf den neusten Stand gebracht: Die Schulung in Stammheim bildet den zweiten Teil der verpflichtenden Outdoor-Schulungen und beinhaltet Übungen sowohl zu pharmazeutischen als auch zu nicht pharmazeutischen Themen wie beispielsweise die „Flughafen-Übung“, die am Vortag stattgefunden hatte.  

Auch am Samstag fand ein gemischtes Programm statt – so sollte es um die Anwendung des International Emergency Health Kits (IEHK) gehen sowie darum, nützliche Outdoor-Fähigkeiten zu erlernen. „Das wird Ihnen Spaß machen“, ermunterte mich Bergmann. Als Großstädterin hatte ich so meine Zweifel an meiner Outdoor-Eignung und war erleichtert, mich zunächst zu den Gruppen zu gesellen, die sich mit dem IEHK beschäftigten.

„Theorie auf den Boden bringen“

Im Schulungsraum waren einzelne IEHK-Musterkisten aufgebaut. Dieses von der WHO standardisierte Notfallkit besteht aus 26 Kisten, wiegt eine Tonne und umfasst 5 Kubikmeter. Die fertig gepackten Kisten können im Notfall von Firmen wie etwa Action Medeor innerhalb von 24 Stunden am Einsatzort zur Verfügung gestellt werden.

Neben Hilfsmitteln und Medizinprodukten enthält das IEHK 65 Arzneimittel. „Die Auswahl ist übersichtlich und dadurch lässt sich eine Feldapotheke in kurzer Zeit einrichten“, erklärt Dr. Petra Lange, stellvertretende AOG-Vorsitzende. In Deutschland sind wir an eine Therapievielfalt gewohnt. „Aber im Einsatz geht es darum, die Theorie auf den Boden zu bringen“, erklärt Vetye.

Andere Patienten – andere Krankheiten – andere Wirkstoffe

Das Down-Sizing der Arzneimittelauswahl sei auch für die Ärzte gewöhnungsbedürftig, mit denen Apotheker ohne Grenzen auf Einsätzen zusammenarbeitet, erklärte Lange. „Am besten, Ihr setzt Euch vorab mit den Ärzten zusammen und klärt, was da ist. Permanente Rückfragen halten nur auf“, riet sie. „Das ist wie in einer Suppenküche, da kann man nur das essen, was da ist. Dafür können aus dem großen Topf viel mehr Menschen schneller versorgt werden“, veranschaulichte Vetye.

Aber es gibt noch mehr, woran sich deutsche Apotheker gewöhnen müssen. So beinhaltet das IEHK Wirkstoffe, die in Deutschland nicht so häufig zum Einsatz kommen, wie etwa Albendazol, Cloaxcillin, Hydrazalin oder die Gabe von Zinksulfat bei Kinderdurchfall. Im Einsatz müssen sich Pharmazeuten zudem mit Erkrankungen auseinander setzen, die in unseren Breiten selten vorkommen, wie beispielsweise Malaria, Cholera oder Erkrankungen durch Würmer oder Parasiten.

Und noch viel wichtiger – die Patienten befinden sich in einer völlig anderen Situation als es deutsche Apothekenkunden sind. So haben die Menschen in Katastrophengebieten meist einen schlechteren Ernährungs- und Allgemeinzustand, was bei der Dosierung von Arzneimitteln zu berücksichtigen ist. Lesen und Schreiben zu können, ist in ärmeren Ländern nicht selbstverständlich. Auch nicht die Vorstellung von üblichen Mengenangaben. „Wenn ich einem Patienten orale Rehydratationslösung mitgebe und ihm sage, er solle diese in einem halben Liter Wasser auflösen, ist es damit meist nicht getan“, verdeutlichte Lange. Besser sei es, ihm ein Gefäß mitzugeben, welches die benötigte Wassermenge fasst oder sogar in dem Gefäß vor den Augen des Patienten eine Lösung herzustellen.

„Ihr macht immer mehr als gar nichts“

Neben den fachlichen Aspekten der Katastrophenpharmazie gab es noch eine andere Frage, die uns beschäftigte. Und zwar, inwieweit man sich als werdende Hilfskraft auf die Belastung einer Katastrophensituation vorbereiten kann? Auf alle Situationen könne man sich zwar nicht vorbereiten, erklärten die Gruppenleiter. Allerdings erkennen die Schulungsleiter und die Teilnehmer selbst in verschiedenen  Rollenspielübungen, die unter anderem von einem Psychologen begleitet werden, wie belastbar sie sind.

„Bevor man in den Einsatz fährt, sollte man sowohl physisch als auch psychisch stabil sein“, erklärte Bergmann. Private Konflikte solle man nicht in den Einsatz mitbringen. Insbesondere die Helfer, die relativ frühzeitig nach Eintreten einer Katastrophe an den Ort des Geschehens kommen, werden schwere Schicksale sehen und auf Menschen treffen, denen nicht mehr zu helfen sei.

Doch es sei wichtig, nicht in eine fatalistische Haltung zu verfallen. „Ihr macht immer mehr als gar nichts“, betonte Lange. Für die erfahrene Einsatzkraft ist die seelische Energiebilanz trotz der schweren Situationen positiv: „Ich bekomme in den Einsätzen viel mehr geschenkt, als ich gebe.“

Immer an den Ausweg denken

Bevor ich Zeit hatte, darüber nachzudenken, ging es weiter mit Geländeübungen der Firma Manningel S2, die sich auf Ausbildung von Hilfsorganisationen spezialisiert hatte. An dem vergangenem Wochenende brachten uns die Outdoor-Spezialisten näher, wie man ein Geländefahrzeug steuert, versteckte Minen erkennt und sich im Gelände mit Karte, Kompass und GPS-Tracker zurechtfindet.

Es kommt zwar selten vor, dass die AOG-Einsatzkräfte im Einsatzgebiet selbst fahren, weil sich die Fahrer vor Ort sich dem häufig unwegsamen Gelände besser auskennen. Doch kann immer etwas dazwischen kommen, erklärte Sven Voigt von Mannigel S2. Der Geländewagen-Experte erklärte ausführlich, welche Funktionen ein Differentialgetriebe hat und was man alles falsch machen kann, wenn man ein Geländewagen mit einem solchen Getriebe fährt. Keinesfalls solle man in ein Hindernis wie etwa eine Vertiefung fahren, ohne einen Plan zu haben, wie man wieder hinaus kommt.

Nach Voigts einprägsamer und gleichzeitig abschreckender Einführung war ich mir absolut sicher, niemals mit so einem Geländewagen auf unbefestigtem Boden fahren zu wollen. Doch keiner der Teilnehmer sollte nach Hause gehen, ohne in der Stammheimer Kiesgrube die steile Böschung und diverse Hindernisse gemeistert zu haben. Jeder, der den Parcours absolviert hatte, stieg strahlend aus dem Auto - überraschenderweise auch ich. Obwohl es schon ein seltsames Gefühl war, als das Fahrzeug langsam die Böschung runter rutschte.

Doch die Kiesgrube war nicht die einzige Übung an jenem Nachmittag, bei der ich meine Komfortzone verließ: Mit einem GPS-Gerät bewaffnet, mussten wir eine Stelle finden, die auf einer Karte eingezeichnet war. Mein Orientierungssinn ist allerdings schon damit gefordert, meine Google-Maps-App zu interpretieren. Der Sinn der Übung war einleuchtend, denn in dünn besiedelten Gebieten werden die Systeme, mit denen die Navigationsfunktionen von Handys oder Tom-Tom-Geräten funktionieren, häufig nicht unterstützt. GPS-Signale sind dagegen überall verfügbar.

Neele Schedler/Apotheker ohne Grenzen
Das Fahrsicherheitstraining war für mich eine Mutprobe. 

Einsatznahe Bedingungen gehören zur Vorbereitung

Ein hartnäckiger Gewitterschauer holte uns in den überdachten Schulungsraum zurück. „Wie in den Tropen“, schmunzelte Bergmann. Insgeheim war ich froh – nicht zuletzt wegen meines lädierten Rückens – dass ich bei dem Wetter nicht wie die anderen Teilnehmer in einem Zelt übernachten musste. Auf Katastropheneinsätzen sei Camping auch für mehrere Wochen allerdings üblich und Privatsphäre gebe es wenig, ergänzte Vetye. Daher gehört das Schlafen unter freien Himmel in den AOG-Schulungen zur Vorbereitung.

Ein Notfalleinsatz läuft nach einem bestimmten Schema ab: Erhält AOG einen Hilferuf, sondiert das „fact-finding-team“, zu dem auch Mediziner und Techniker gehören, für einige Tage das betroffene Gebiet. Dann wechseln sich AOG Teams mit jeweils zwei Personen im drei-Wochen-Rhythmus ab – solange die pharmazeutische Hilfe notwendig ist. „Wir mussten auch schon abbrechen, wenn die politische Lage instabil wurde“, berichtete Bergmann. Bei AOG werden die ehrenamtlichen Helfer keinen unnötigen Gefahren ausgesetzt oder in Kriegsgebiete geschickt.

Nach dem Einsatz werden die Helfer meist von AOG-Kollegen vom Flughafen abgeholt und können sich zeitnah über ihre Erfahrungen austauschen. Die Hilfsorganisation will aber noch mehr tun und lässt derzeit einige erfahrene Einsatzkräfte psychologisch ausbilden, um ihre Helfer über die operative Ebene hinauszubegleiten.

Lagerhaltung - zwischen QM und Pragmatismus

Während es am Samstag vorrangig um Notfalleinsätze ging, stand am folgenden und letzten Schulungstag die langfristige Entwicklungszusammenarbeit im Vordergrund. AOG unterstützt dabei in vielen Ländern mit pharmazeutischem Fachwissen. Ein Thema, das bei den Schulungen vor Ort immer wieder vorkommt ist, wie man ein Arzneimittellager verwaltet. Stefanie Pügge, hauptamtliche Projektkoordinatorin bei AOG, berichtete über ihre Erfahrungen. „Temperaturkontrolle, Sauberkeit und gründliche Bestandsführung sind für uns selbstverständlich. „Aber je nach Gebräuchen kann es vorkommen, dass in der Apotheke ein Huhn zwischen gelagert wird, das morgens auf dem Markt gekauft wurde“, erzählte Pügge.

Die Projektkoordinatorin verdeutlichte, dass es wichtig ist, bei den Schulungen das Personal vor Ort abzuholen. Eine beliebte Metapher, um die Verfalldatenkontrolle zu erklären, ist das Ampelsystem. „In sehr ländlichen Regionen wissen aber nicht alle Menschen, was eine Ampel ist“, erklärte Pügge. Damit qualitätssichernde Maßnahmen auch umgesetzt werden, muss das Personal vor Ort deren Sinn verstehen. „Durch eine ordentliche Lagerhaltung ein Medikament schnell zu finden, kann Leben retten“, verdeutlichte Pügge.

Hilfe wirkt an der Basis am stärksten

Für eine erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit ist es wichtig, das Gesundheitssystem vor Ort zu kennen. Und in den Einsatzländern liegt häufig eine so genannte Distriktgesundheitsversorgung vor, die überwiegend öffentlich finanziert ist, erklärte Carina Vetye, die seit über 16 Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit in Argentinien tätig ist.

Ein Distrikt bildet eine Verwaltungseinheit, in der zwischen 50.000 bis 500.000 Menschen leben. Die Versorgung findet in drei Ebenen statt. Die Basis bilden die sogenannten Gesundheitsposten oder -zentren, wo beispielsweise Schwangere und chronisch Kranke betreut, akute Wunden gesäubert und auch Arzneimittel ausgegeben werden. Die Bewohner können sich dort auch impfen sowie gegen Malaria, Lungenentzündung oder Parasiteninfektionen behandeln lassen.

„Auf dieser ersten Ebene lassen sich meist 80 Prozent aller medizinischen Probleme lösen“, erklärte Vetye. Für die meisten Distriktbewohner sollten diese primären Anlaufstellen durch einen maximal einstündigen Fußmarsch erreichbar sein. Wer dort nicht behandelt werden kann, wird auf eine der beiden nächsten Stufen  –  dem Distrikt- oder Spezialkrankenhaus – überwiesen. Um dorthin zu gelangen, müssen viele Distriktbewohner lange Wege auf sich nehmen. Häufig werden öffentliche Mittel dazu verwendet, in den Städten ein neues Krankenhaus zu bauen. Doch die Basis der Gesundheitsposten und -zentren zu unterstützen, ist zwar weniger spektakulär aber hilft der Masse der Bevölkerung, erläutert Vetye.

Eine ganz persönliche Entscheidung

Während der anderthalb Tage, die ich mit Apotheker ohne Grenzen verbrachte, gewann ich einen kleinen Einblick, was die Hilfsorganisation für großartige Arbeit leistet. Die gemeinsamen Tage zeigten mir auch, dass für einen Notfalleinsatz starke Nerven und eine gute körperliche Kondition erforderlich sind. Ob man sich das vorstellen kann und zutraut, ist eine ganz persönliche Entscheidung.

Allerdings gibt es verschiedene Möglichkeiten, bei einer pharmazeutischen Hilfsorganisation aktiv zu werden. So ist die Belastung bei den Projekten zur langfristigen Entwicklungszusammenarbeit geringer als bei einem Katastropheneinsatz. Außerdem gibt es auch die Möglichkeit, im Inland aktiv zu werden.   



Dr. Bettina Jung, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online
redaktion@daz.online


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