Überlebenszeiten

NRW-Gesundheitsminister Laumann will Zyto-Skandal prüfen lassen

Bottrop - 27.03.2018, 17:50 Uhr

In Bottrop trugen Demonstranten Listen mit Namen von Patienten durch die Stadt, die womöglich von dem Fall betroffen sind. Die Apotheke hat inzwischen eine neue Betreiberin. (Foto: hfd / DAZ.online)

In Bottrop trugen Demonstranten Listen mit Namen von Patienten durch die Stadt, die womöglich von dem Fall betroffen sind. Die Apotheke hat inzwischen eine neue Betreiberin. (Foto: hfd / DAZ.online)


Am heutigen Dienstag traf sich NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) mit Nebenklägern des Prozesses um den Bottroper Zyto-Apotheker. Nachdem kürzlich vorläufige Analysen zu womöglich verminderten Überlebenszeiten bekannt wurden, prüft auch das Ministerium nun die Erstellung eines Gutachtens. Es könnte für den Strafprozess relevant werden.

Schon im September 2017 hatte NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann ein Treffen mit Patienten geplant, die Krebsmittel aus der Zyto-Apotheke in Bottrop erhielten, deren früherer Betreiber Peter S. wegen möglicher Unterdosierungen und Betrug am Landgericht Essen angeklagt ist. Damals fiel das Gespräch wegen eines anderen Termins kurzfristig ins Wasser, wurde am Dienstag nun aber nachgeholt. „Es hat heute ein gutes und konstruktives Gespräch zwischen Betroffenen des Bottroper Apothekenskandals und Herrn Minister Laumann stattgefunden“, erklärt ein Ministeriumssprecher.

Thema war unter anderem, ob sich Auffälligkeiten beim Verlauf und Überleben der aus der Bottroper Apotheke belieferten Krebspatienten feststellen ließen. Eine vorläufige Auswertung von Daten der AOK Rheinland/Hamburg, die das Recherchebüro Correctiv veröffentlichte, lieferte erste Hinweise hierauf. Das Gesundheitsamt Düsseldorf würde eine derartige Fallkontrollstudie begrüßen, da so festgestellt werden könne, ob die Gesamtheit aller Patienten, die mit Mitteln aus der Zyto-Apotheke behandelt wurden, schlechter abschneiden als von anderen Apotheken versorgte Patienten, zitiert das Recherchebüro einen Amtssprecher.

Können Studien den entstandenen Schaden überhaupt aufzeigen?

„Klar ist: Keine Studie kann Patientinnen und Patienten im Einzelfall die Gewissheit bringen, welcher individuelle Schaden entstanden ist“, erklärt ein Ministeriumssprecher auf Nachfrage. Etwas anderes sei die nun durch Auswertungen der AOK Rheinland/Hamburg aufgekommene Frage, ob allgemeine Erkenntnisse über die Therapieverläufe von Patienten, die Zytostatika aus der Bottroper Apotheke in Bottrop erhalten haben, und anderweitig versorgten Patienten möglich sind. „Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales wird klären, ob hier ein unabhängiges Gutachten wissenschaftlich belastbare Erkenntnisse liefern kann, und wenn das so ist, dieses Gutachten in Auftrag geben“, erklärt ein Sprecher.

Als „handfestes und gutes Ergebnis“ bezeichnete dies der frühere kaufmännische Leiter Martin Porwoll gegenüber DAZ.online, der als Whistleblower den Fall ins Rollen brachte und auch am Gespräch im Ministerium teilgenommen hatte. Falls die vorläufigen Ergebnisse sich bestätigen, würde dies auch der früheren Argumentation mancher Onkologen den Boden entziehen, ihre Patienten hätten sogar überdurchschnittliche Ergebnisse gehabt. Ende Januar hatte Laumann Porwoll im NRW-Gesundheitsausschuss als „wahren Held“ bezeichnet, da er das Rückgrat gehabt habe, seinen Chef anzuzeigen und so seinen Job zu riskieren. Da er noch keine Anstellung fand, wolle Laumann sich „darum kümmern“, heißt es im Ausschussprotokoll.

Auch Nebenklägerin Heike Benedetti, die monatlich in Bottrop Demonstrationen zum Fall organisiert, bezeichnete das Gespräch als „ganz gut“. Von den nun laufenden unangekündigten Kontrollen und Probeziehungen in NRW erhofft sie sich jedoch wenig, da Apotheker nun sicherlich ohnehin aufpassen würden. Sie hofft, dass der Fall weitere Konsequenzen nach sich zieht. „Ganze viele kleine Schritte können am Ende einen größeren ergeben“, sagt sie gegenüber DAZ.online.

Was können die Kassen über den Fall herausfinden? 

Laut dem Correctiv-Bericht haben Experten der AOK Rheinland/Hamburg die Fälle von 170 Versicherten analysiert, die zwischen 2009 und 2016 wegen Brustkrebs, Leukämien und Lymphome litten Krebsmittel aus der Apotheke von Peter S. bekamen. Diese Informationen verglichen sie mit den Daten von gut 13.000 Versicherten mit vergleichbarer Erkrankungssituation, die Zytostatika aus anderen Apotheken erhielten.

Aufgrund der geringen Patientenzahl sind kaum Rückschlüsse möglich. Zwar bestätigt die Kasse die publizierten Zahlen, bezeichnet sie aber als vorläufige interne Analyse. Bei Leukämie- und Lymphompatienten, die Zytostatika aus der Bottroper Zyto-Apotheke bezogen, sollen bislang rund vier von fünf Versicherten verstorben sein – in der Vergleichsgruppe nur gut jeder zweite. Brustkrebspatientinnen sollen häufiger einen Rückfall erlitten haben. Die AOK Rheinland/Hamburg will den zugrundeliegenden Bericht nicht zur Verfügung stellen, Correctiv verweist auf Quellenschutz.

„Derzeit ist da nichts geplant“

Womöglich könnte die Analyse der Versicherten mehrerer Krankenkassen zuverlässigere Ergebnisse erzielen, doch Anfragen von DAZ.online ergeben geringe Aktivitäten in dieser Sache. Er habe gehört, dass die Kollegen eine Auswertung gemacht haben, erklärt der Pressesprecher der AOK Nordwest auf Nachfrage – doch aufgrund des laufenden Verfahrens wolle er keine Auskünfte geben, inwiefern ähnliche Auswertungen durchgeführt oder vorgesehen seien.

„Derzeit ist da nichts geplant“, erklärt ein Sprecher der TK, der auch auf wenige Versicherte aus der Region verweist – die Kasse sei aber in Austausch mit der AOK. „Eine vergleichbare Auswertung wie die der AOK Rheinland/Hamburg haben wir bisher nicht durchgeführt und sie ist aktuell auch nicht geplant“, schreibt ein Barmer-Sprecher. „Eine solche Studie wäre sicherlich eher eine Angelegenheit der Staatsanwaltschaft und nicht der Krankenkassen“, erklärt ein Sprecher Knappschaft-Bahn-See. Die Staatsanwaltschaft ist rechtlich in der Lage, solche Daten von den Kassen einzufordern

Daten könnten auch für Strafprozess relevant werden

Womöglich könnten statistische Auswertungen für das Strafmaß im Prozess gegen den Zyto-Apotheker Peter S. von Interesse sein. Nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft helfen sie aber nicht, mögliche Körperverletzungs- oder Tötungsdelikte nachzuweisen: Hierzu bedürfe es kausaler Nachweise, dass bestimmte Patienten unterdosierte Mittel erhielten und deswegen tatsächlich geschädigt wurden, was schwer nachweisbar ist, sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft.

Dies sieht beispielsweise der Nebenklagevertreter Markus Goldbach deutlich anders. „Der Angeklagte wusste dabei, dass er die ungerechtfertigten Zahlungen der Krankenkassen nur um den Preis erhalten würde, dass bei einigen Patienten die Therapien aufgrund der Unterdosierung nicht in dem möglichen Ausmaß anschlagen würden und dass ihre Lebenszeit somit im Vergleich zu einer ordnungsgemäßen Therapierung verkürzt würde“, sagte er vor Gericht. „Da der Angeklagte trotzdem unterdosierte Therapien hergestellt hatte, hat er sich des versuchten Mordes schuldig gemacht.“

Nach Ansicht von Goldbach sind die neuen Daten sehr spannend: Erstmals sehe man konkrete Auswirkungen auf das Überleben von Patienten. „Bis jetzt ist ja ausgesagt worden, dass die Heilchancen überdurchschnittlich waren“, sagt er unter Verweis auf Einlassungen der Verteidigung gegenüber DAZ.online. Er wolle erneut einen Antrag stellen, dass wegen versuchten Mordes oder zumindest versuchter schwerer Körperverletzung verhandelt wird. Die Verteidiger haben die Vorwürfe gegen den Angeklagten bislang bestritten, der Apotheker selber schweigt.



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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