Kisspeptin steuert Sexualverhalten

Kein KiSS, kein Sex?

Stuttgart - 06.02.2018, 12:00 Uhr

Kisspeptin steuert sexuelle Anziehung, sexuelle Bereitschaft und die Fruchtbarkeit. (Foto: konradbak / stock.adobe.com)

Kisspeptin steuert sexuelle Anziehung, sexuelle Bereitschaft und die Fruchtbarkeit. (Foto: konradbak / stock.adobe.com)


Kisspeptin klingt nicht nur schön, das Peptidhormon steuert auch schöne Gefühle – die Anziehung zum anderen Geschlecht und das sexuelle Verlangen. Zumindest bei Mäusen. Ohne Kisspeptin also kein Sex? Dirigiert ein einziges Molekül Fruchtbarkeit, sexuelle Anziehung und Motivation? Laut Wissenschaftlern aus Lüttich und dem Saarland lautet die Antwort „ja“. Ergibt sich daraus eine Behandlungsmöglichkeit für Hyposexualität?

„Sexuelles Verlangen ist essenziell für das Überleben vieler Arten.“ So beginnt die wissenschaftliche Arbeit von Forschern der Universität Lüttich in Belgien und der Universität des Saarlandes in Nature Communications. Das lässt sich nicht leugnen. Bekannt ist auch, dass Mutter Natur bei Frauen das größte sexuelle Verlangen mit der Ovulation synchronisiert, um den Fortpflanzungserfolg zu optimieren. Frauen sind kompliziert, und so war auch diese Orchestrierung von Pheromonen, Neuronen und Hormonen bislang schwer verstanden, die sexuelle Anziehung, Bereitschaft zum Sex und die Fruchtbarkeit steuert. Die Professoren Julie Bakker und Urich Boehm der Universitäten Lüttich und des Saarlands glauben, einen wichtigen Dirigenten gefunden zu haben: Das Peptidhormon Kisspeptin scheint der „Linker“ beim Zusammenspiel von sexuellem Verlangen, der sexuellen Bereitschaft und der Ovulation zu sein. Ohne Kisspeptin kein Sex? 

Wie kommt „Kisspeptin“ zu seinem Namen?

Der Name des Gens KiSS1, das für das Peptidhormon Kisspeptin codiert, ist ein Artefakt aus „Ki“ und „SS“ – oder Schokolade und Krebs. Die Entdecker tauften KiSS1 nach seinem Entdeckungsort Hershey in Pennsylvania. Genauer gesagt: nach einem bekannten Produkt aus Hershey – der „Hershey-Kiss-Schokolade“. Diese würdigten die Forscher mit der ersten Silbe des Gens „Ki“. „SS“ steht für die als erstes gefundene Funktion des Kiss1-Gens als Suppressor-Sequenz, die der Metastasierung von Brust- und Hautkrebs entgegenwirkt.

Zentrale Rolle in der Pubertät

Verleitet der Name Kisspeptin und das dafür codierende Gen KiSS1 initial zu der falschen Annahme, das Peptidhormon habe etwas mit „küssen“ zu tun, geht die aktuelle Forschung dennoch in diese zwischenmenschliche und intime Richtung. Das war nicht immer so: US-amerikanische Wissenschaftler stießen zunächst in einem völlig anderen Kontext auf Kisspeptin – als Supressor der Metastasierung von Melanomen und Mammakarzinomen.

Nach und nach kristallisierte sich der Einfluss von Kisspeptin auch auf Gonadoliberine beim Menschen und die Pubertät heraus. Denn: Das Peptidhormon leitet – nach Bindung an seinen G-Protein-gekoppelten KiSS1-Rezeptor – die Gonadoliberin-Ausschüttung ein und somit den Beginn der Pubertät. Die Rolle von Kisspeptin zum Startschuss der Pubertät ist zentral: Fehlt Kisspeptin – durch eine Loss-of-Function-Mutation des für Kisspeptin-codierenden KiSS1-Gens – bleibt die Pubertät auf Grund vom Hypogonadismus aus.

Wie misst man sexuelle Bereitschaft?

Nun sprechen belgische und saarländische Forscher Kisspeptin weitere wichtige sexuelle Funktionen zu – in der Pheromon-getriggerten Partnerwahl und der tatsächlich daraus resultierenden „sexuellen Motivation“, zumindest bei weiblichen Mäusen. Die sexuelle Bereitschaft der „Mäusinnen“ analysierten die Forscher anhand ihres „lordosis behaviour“, was in diesem Fall keine anatomisch-bedingte Fehlstellung der Wirbelsäule bedeutet, sondern dem Männchen die weibliche Bereitschaft für Sex durch bewusste Krümmung des Rückens signalisiert.

Pheromone aktivieren Kisspeptin

Wo startet der Einfluss von Kisspeptin auf das weibliche Sexualverhalten? Die Kaskade beginnt relativ früh, bereits in der Nase: Kisspeptin wirkt „Pheromon-getriggert“. Pheromone stimulieren übere Gonadotropin-Releasing-Hormone (GnRH), FSH und LH die Sexualhormonproduktion in Ovarien und Testes (siehe Infobox Pheromone).
Pheromone wirken auch auf Kisspeptin-Neurone im Hypothalamus – sie aktivieren diese zur Kisspeptin-Freisetzung. Diese Kisspeptin-Neurone erscheinen geschlechtsspezifisch wählerisch: So lassen sich die Kisspeptin-Neuronen in „Mäusinnen“ offenbar ausschließlich durch männliche Pheromone aktivieren. Nach Ansicht der Wissenschaftler weisen diese Daten darauf hin, dass olfaktorische Präferenzen bei weiblichen Mäusen über Kisspeptin-Neurone und über GnRH-Neurone ausgelöst werden.

Pheromone

Wie wirken aphrodisierende Pheromone auf die Reproduktionsphysiologie?

Pheromone stimulieren als Botenstoffe das sogenannte Jacobson- oder Vomeronasalorgan (VNO) in der Nasenscheidewand. Von dort ziehen affektorische Bahnen unter anderem zur Amygdala im limbischen System und zum Hypothalamus. Im Hypothalamus werden daraufhin Gonadotropin-Releasing-Hormon (GnRH)-Neurone aktiviert, die Gonadoliberine ausschütten. Diese stimulieren dann wiederum über die hypothalamisch-hypophysäre Achse die Ausschüttung der adenohypophysären Hormone LH (Luteinisierungshormon) und FSH (Follikel-stimulierendes Hormon). Beide Hormone führen in den Ovarien zur Follikelreifung und Östrogen- und Progesteron-Produktion.In der Mitte des Zyklus löst ein LH-Gipfel die Ovulation aus. Beim Mann stimuliert LH die Testosteron-Produktion in den Hoden.

Weibliche Duftstoffe aktivieren GnRH-Neurone in männlichen Nagern und fördern folglich deren Testosteronproduktion. Umgekehrt läuft es analog: Pheromone männlichen Ursprungs stimulieren bei weiblichen Mäusen GnRH-Neurone, konsekutiv die LH- und FSH-Sekretion und deren Sexualhormon-Produktion.

Kisspeptin steuert den Eisprung

Pheromone sind jedoch nicht die einzigen Aktivatoren des GnRH-Systems. Das hypothalamische Peptidhormon Kisspeptin ist ebenfalls ein potenter Stimulator der neuronalen Aktivität von GnRH: 95 Prozent der GnRH-Neurone tragen einen Rezeptor für Kisspeptin (Kiss1R). Folglich steuert Kisspeptin über Gonadoliberine (GnRH), FSH und LH den Eisprung, indem es den LH-Anstieg antreibt, der für eine Ovulation essenziell ist (LH-Gipfel). Nach Ansicht der Wissenschaftler stützt der Einfluss von Kisspeptin auf LH und die Ovulation ihre Vermutung, dass Kisspeptin tatsächlich im Dienste der Reproduktion tätig ist. 
Nach Einschätzung der Forscher stützt eine weitere Beobachtung die Bedeutung von Kisspeptin auf die Fortpflanzung: Kisspeptin-Neurone zeigen einen ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus – weibliche Mäuse sind mit Kisspeptin-Neuronen deutlich besser ausgestattet als die männlichen Nager.

Wie wird aus sexueller Anziehung sexuelle Bereitschaft?

Kisspeptin scheint tatsächlich als Linker zwischen sexueller Anziehung und Ovulation zu fungieren. Doch: Wie kommt es nun zum Sex? Welche Rolle spielt Kisspeptin letztlich bei der sexuellen Motivation und Bereitschaft? Auch das interessierte die Forscher. 

Kein Sex ohne Kisspeptin?

Die Ergebnisse der Forscher deuten zumindest darauf hin. So erhöhten Kisspeptin-Injektionen in Mäusen deren sexuelle Bereitschaft, während Mäuse ohne Kisspeptin-Neurone offenbar keinerlei „lordosis behaviour“ – sexuelle Bereitschaft –  zeigten und keinerlei Anstalten machten, sich sexuell zu betätigen. 

Ist die olfaktorische Präferenz des Sexualpartners durch Pheromone noch abhängig von GnRH, fanden die Forscher keinen Zusammenhang zwischen GnRH und der sexuellen Motivation: In Kisspeptin-defizienten Mäusen führten auch Gonadoliberin-Injektionen nicht zu mehr Sex. Frühere Untersuchungen hatten hingegen ergeben, dass auch GnRH-defziente Mäuse keine sexuellen Defizite zeigten. Die Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis, dass GnRH keine dominierende, herausragende Rolle, sondern lediglich unterstützende Funktion zukommt. Kisspeptin scheint hier jedoch tatsächlich zentrale Funktionen zu übernehmen, um sexuelle Anziehung mit sexueller Motivation zu koppeln.

Kisspeptin bei sexueller Inappetenz?

Und noch eine Beobachtung machten die Wissenschaftler: Knock-out-Mäuse ohne KiSS1-Rezeptoren auf GnRH-Neuronen waren dennoch sexuell motiviert und zeigten kein eingeschränktes „lordosis behaviour“ – was bedeutet: Kisspeptin wirkt noch über einen anderen Weg auf die sexuelle Bereitschaft. Hier scheint NO eine zentrale Rolle zu spielen und Kisspeptin wirkt, unabhängig von seiner KiSS1-Rezeptor-Vermittlung, über hypothalamische Stickstoffmonoxid-synthetisierende Neurone auf das kopulatorische Verhalten.

„Von einem einzigen Molekül, dem Kisspeptin, werden also Pubertät, Fruchtbarkeit, Anziehung zum anderen Geschlecht und sexuelle Motivation kontrolliert. Diese Erkenntnis eröffnet neue, vielversprechende Möglichkeiten für die Behandlung von Patienten mit psychosexuellen Störungen wie zum Beispiel der verminderten sexuellen Appetenz“, lautet die vorläufige Conclusio der Wissenschaftler. Derzeit gebe es keine guten Behandlungen für Frauen mit geringem sexuellem Verlangen. Die Entdeckung, dass Kisspeptin sowohl die Anziehung als auch das sexuelle Verlangen kontrolliere, könne helfen, neue Therapien für solche Störungen zu entwickeln, erklärte Professorin Julie Bakker aus Lüttich.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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