Kritik des WidO

AOK-Institut: „Wegen Gilead bleibt die HIV-Therapie teuer“

Stuttgart - 29.11.2017, 12:00 Uhr

Kurz bevor das Patent von Truvada, dem Umsatz-Spitzenreiter bei HIV-Arzneimitteln, ablief, brachte Gilead eine neue Variante von Tenofovir auf den Markt: Tenofoviralafenamid. (Foto: picture alliance - ZUMA Press)

Kurz bevor das Patent von Truvada, dem Umsatz-Spitzenreiter bei HIV-Arzneimitteln, ablief, brachte Gilead eine neue Variante von Tenofovir auf den Markt: Tenofoviralafenamid. (Foto: picture alliance - ZUMA Press)


Das wissenschaftliche Institut der AOK übt heftige Kritik am Geschäftsgebaren der Firma Gilead. Das Unternehmen sichere sich mit geringfügig veränderten Versionen von patentfreien HIV-Wirkstoffen seine Pfründe. Diese verkaufe es als nebenwirkungsärmer. Gilead stehe so dem Einsatz kostengünstiger Generika entgegen. Konkret geht es dabei um Descovy®, das eine Weiterentwicklung des mittlerweile patentfreien Truvadas® darstellt und dessen Zusatznutzen umstritten ist.

„Mit pharmatypischen Schachzügen hält Gilead den aufkommenden Preiswettbewerb von Generika-Konkurrenten klein und ihren Gewinn hoch.“ Das wirft das wissenschaftliche Institut der AOK (WidO) dem Unternehmen vor. Gilead ist der weltweit führende Anbieter von Arzneimitteln gegen HIV. Laut AOK geht jeder zweite Euro, der in diesem Bereich ausgegeben wird, an Gilead. Noch vor zehn Jahren war es nur etwa jeder fünfte. Lange war Gileads Truvada absoluter Umsatz-Spitzenreiter bei den HIV- Arzneimitteln.

Truvada® enthält eine Kombination aus Emtricitabin und Tenofovirdisoproxil. Kurz bevor das Patent ablief, brachte die Firma eine neue Variante von Tenofovir auf den Markt: Tenofoviralafenamid statt wie bisher Tenofovidisoproxil. Wieder in fixer Kombination mit Emtricitabin – aber unter neuem Namen, Descovy®, und mit neuem Patentschutz. Im Unterschied zu Tenofovirdisoproxil ist Tenofoviralafenamid im Plasma stabil und wird erst in den Zellen enzymatisch von Cathepsin A zu Tenofovir umgewandelt. Das soll zu mehr Selektivität und somit zu besserer Wirksamkeit bei geringeren Nebenwirkungen führen.

Patentablauf Truvada® schmerzt Gilead nicht

Das sah der Gemeinsame Bundesauschuss (G-BA) jedoch anders. Er konnte keinen Zusatznutzen für die Patienten feststellen. Auch die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) erklärte in einer Stellungnahme zu Tenofoviralafenamid bei der Hepatitis-B-Behandlung allerdings, dass der angeblich geringere Schaden des neuen Produktes in den von Gilead durchgeführten Studien nicht belegt sei. Vielmehr deuteten einige Ergebnisse darauf hin, dass sogar mehr neurologische Nebenwirkungen als unter dem in Truvada® enthaltenen Tenofovirdisoproxil auftreten.

Die Leitlinien der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG) empfehlen einen Therapiewechsel ausschließlich bei Versagen, Nebenwirkungen, Problemen mit dem Einnahmeregime, Schwangerschaft, Begleittherapien oder Arzneimittelinteraktionen. Trotzdem sind die Verordnungsmengen von Descovy® sehr schnell angestiegen. Es hat mittlerweile Truvada® an der Spitze der Umsatzbringer abgelöst. Gilead hat demnach der Patentablauf von Truvada® nicht wehgetan.

Kosten bei HIV-Therapie versiebenfacht

„Offenbar hat Gilead die vermeintlichen Vorteile seines nur leicht veränderten, aber unter Patentschutz stehenden Präparates erfolgreich beworben und konnte sich somit der unliebsamen Generika-Konkurrenz erwehren“, kritisiert Helmut Schröder, der stellvertretende Geschäftsführer des WidO. „Mit dieser Strategie werden HIV-Patienten für Unternehmensinteressen benutzt, indem ihre Therapie unnötig auf neuere und teure Arzneimittel umgestellt wird, deren Verbesserung gar nicht belegt und mit womöglich neuen Gefahren verbunden ist. Gilead verhindert damit auch einen möglichen Preiswettbewerb und Einsparungen für die GKV.“

Therapiefortschritte bei HIV kosten ihren Preis

Neben der konkreten Kritik an Descovy spricht das WidO auch noch ganz grundsätzlich den Preisanstieg in der HIV-Therapie an. Die Preise für HIV-Arzneimittel haben sich in den letzten 30 Jahren versiebenfacht, heißt es. 1990 kostete die Verordnung eines HIV-Arzneimittels die GKV durchschnittlich 220 Euro, 2016 mit 1570 Euro bereits das Siebenfache. Das Institut räumt jedoch ein, dass es große Fortschritte gab. So seien früher mit der damaligen Monotherapie nur kurze und unzureichende Behandlungserfolge erzielt worden, heute hingegen könnten HIV-Patienten bei erfolgreichem Ansprechen auf die mittlerweile zur Verfügung stehenden Kombinationstherapien und dauerhafter Medikamenteneinnahme nahezu das Lebensalter der Durchschnittsbevölkerung erreichen. Diese Forschung und Entwicklung hätte jedoch anscheinend dauerhaft ihren Preis, so das WidO.

Das Robert Koch-Institut schätzt, dass über 65.000 HIV-Infizierte eine antiretrovirale Therapie in Deutschland bekommen. Insgesamt hat die GKV 2016 rund 945 Millionen Euro für die Behandlung mit antiretroviralen Medikamenten ausgegeben.



Julia Borsch, Apothekerin, Chefredakteurin DAZ
jborsch@daz.online


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1 Kommentar

AOK Institut

von Dr. Matthias David Vogelsgesang am 29.11.2017 um 14:20 Uhr

Ist es besser für die AOK, die Leute sterben zu lassen, oder kostet dies nicht deutlich mehr?
Ist es moralisch unproblematisch, dass eine Krankenkasse Millionen an Gewinn macht?
Warum hat Deutschland kein staatliches Pharmazeutisches Forschungsinstitut, welches neue Wirkstoffe sucht?
Was macht das AOK Wissenschaftsinstitut? Wie IQWIQ, Sesselfurzen?
Fragen über Fragen ...

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