Arzneimittelskandal

Hatte der Bottroper Zyto-Apotheker womöglich Mittäter?

Bottrop - 09.11.2017, 07:00 Uhr

Die Apotheke des in Untersuchungshaft sitzenden Peter S. wird inzwischen wieder von seiner Mutter betrieben. (Foto: hfd / DAZ.online)

Die Apotheke des in Untersuchungshaft sitzenden Peter S. wird inzwischen wieder von seiner Mutter betrieben. (Foto: hfd / DAZ.online)


Kommende Woche beginnt der Prozess gegen den Bottroper Zyto-Apotheker. Nach neuen Medienrecherchen ermittelt die Staatsanwaltschaft auch gegen Mitarbeiter von Peter S. Unklar ist weiterhin, wie viele Patienten betroffen sind – und inwiefern sie informiert wurden. Ein Gerichtssprecher zeigt sich gegenüber DAZ.online überrascht, dass die Staatsanwaltschaft dies nicht übernommen hat.

Wenige Tage vor dem am Montag beginnenden Prozess gegen den Bottroper Zyto-Apotheker Peter S. sind weiterhin viele Fragen offen. So die Zahl der betroffenen Patienten: Der Apotheker mischte „für 4000 Krebspatienten wirkungslose Medikamente an“, schreibt das Recherchebüro Correctiv – und erwähnt jedoch, dass unklar sei, bei wie vielen von 4661 Krebspatienten die Vorwürfe zutreffen, dass Arzneimittel tatsächlich unterdosiert wurden. Unter Verweis auf die Anklage schreibt das Boulevardblatt „Bild“, dass Peter S. sich gezielt Patienten ausgesucht habe, die nur geringe Heilungschancen hatten. „Deshalb könne der Nachweis eines Tötungsdeliktes nicht zur Anklage gebracht werden“, schreibt die „Bild“.

Für eine Sprecherin der zuständigen Staatsanwaltschaft Essen ist jedoch „unbegreiflich“, woher Medien auch eine zuvor kommunizierte Zahl von 3700 Patienten haben. „Von uns stammt diese Zahl nicht“, erklärt sie. Die Staatsanwaltschaft hat im Laufe ihrer Ermittlungen eine Liste von knapp 62.000 Zytostatika zusammengestellt, die von 2012 bis 2016 in der Apotheke für Kassenpatienten hergestellt und womöglich unterdosiert wurden. Sie hatten einen Wert von rund 56 Millionen Euro – den die Staatsanwaltschaft als Schaden für die Kassen angesetzt hat, da es auch gravierende Probleme mit der Hygiene sowie der Dokumentation gegeben haben soll.

Die Staatsanwaltschaft hat die Betroffenen nicht gezählt

Die angegebenen rund 3700 oder 4661 Betroffenen beziehen sich offenbar auf die Liste der laut Anklage fehlerhaften Rezepturen, wobei viele Patienten mehrfach aufgeführt sind. Doch hat die Staatsanwaltschaft selber nicht gezählt, um wie viele es sich handelt. „Das haben wir nicht getan, weil wir das für die Anklage nicht brauchen“, erklärt die Sprecherin auf Nachfrage.

Auch das Gericht weiß nicht, wie viele Patienten in der Anklageschrift aufgeführt sind, wie ein Gerichtssprecher gegenüber DAZ.online erklärt. Seiner Auskunft nach nimmt die Strafkammer Nebenklagen nicht nur von 27 Personen an, für die unterdosierte Zytostatika sichergestellt wurden und bei denen die Staatsanwaltschaft versuchte Köperverletzung vermutet. Doch die wohl tausenden Betroffenen sind über diese Möglichkeit bislang offenbar nicht informiert worden. „Die Staatsanwaltschaft hat nach meiner Kenntnis alle, die in der Liste auftauchen, angeschrieben“, erklärt ein Gerichtssprecher auf Nachfrage von DAZ.online – dem Gericht würden die Adressen nicht vorliegen. Doch laut der Sprecherin der Staatsanwaltschaft ist dies nicht der Fall: Sie sieht die Gesundheitsämter sowie die behandelnden Ärzte in der Pflicht. 

NRW-Gesundheitsministerium sind die Hände gebunden

In einer Pressemitteilung vom heutigen Mittwoch betonte NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann, dass „der Verdacht eines ungeheuerlichen Verbrechens“ im Raum stehe. „Das Leid der Betroffenen und ihrer Angehörigen ist unfassbar groß“, erklärte er. „Und selbstverständlich haben diejenigen, die als Patientinnen und Patienten womöglich von dem Skandal betroffen sind und das wissen wollen, ein Recht, das zu erfahren.“

Das Ministerium verweist unter Bezug auf den Datenschutz darauf, dass es selber nicht informieren dürfe. Die behandelnden Ärzte seien hingegen verpflichtet, ihren fragenden Patienten „sämtliche für die Behandlung wesentlichen Umstände zu erläutern“, erklärte der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Theodor Windhorst. Dazu gehörten auch nachträgliche Erkenntnisse über eine möglicherweise oder tatsächliche fehlerhafte Zubereitung von Onkologika durch die liefernde Apotheke. Die Ärztekammern in Nordrhein-Westfalen hatten eine Untersuchung angestoßen, um herauszufinden, inwiefern dies geschehen ist. Details hierzu nannte ein Sprecher auf Nachfrage zunächst nicht.

Außerdem entwickelt eine Arbeitsgruppe mögliche Lehren aus dem Skandal. „Die Apothekerkammern erarbeiten aktuell in enger Kooperation mit der Ärzteschaft zusätzliche Maßnahmen, wie ähnlichen Fällen zukünftig vorgebeugt und das Vertrauen in eine ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung wiederhergestellt werden kann“, erklärten die Präsidentin der Apothekerkammer Westfalen-Lippe, Gabriele Regina Overwiening, und der Präsident der Apothekerkammer Nordrhein, Lutz Engelen, in der Pressemitteilung. 

Was wussten die Mitarbeiter der Zyto-Apotheke?

Unklar ist, inwiefern Mitarbeiter von Peter S. von fragwürdigen Tätigkeiten in der Apotheke wussten. Während eine anonyme Apothekerin in einem Zeitungsbericht zitiert wurde, „keiner“ habe hiervon gewusst, hatten der ehemalige kaufmännische Leiter Martin Porwoll sowie die PTA Marie Klein den Fall im vergangenen Jahr zur Anzeige gebracht. „Wenn das hier auffliegt, weiß ich von nichts“, zitiert Klein eine ehemalige Kollegin in einem Artikel in der „Zeit“ vom heutigen Donnerstag, in dem sie auch über ihren ehemaligen Chef Peter S. spricht. „Haltbarkeitsdaten interessierten nicht, Lagerungshinweise waren egal, er war einfach schlampig“, erklärte Klein gegenüber der Zeitung.

Ihr sei aufgefallen, dass ihr Chef verbotenerweise freitags schon Krebstherapien für die kommende Woche angemischt hätte, was zu gefährlichen Wechselwirkungen zwischen Inhaltsstoffen führen könne. Auch habe Klein gesehen, wie Peter S. zurückgegebene Zyto-Infusionen „einfach umetikettiert“ und mit dem Namen eines anderen Patienten versehen hätte, erklärte Klein laut der „Zeit“.

Laut dem Artikel hatte ein damals inhaftierter Ehemann einer Apotheken-Mitarbeiterin 2013 Vorwürfe gegen Peter S. geäußert, die er von seiner Ehefrau gehört haben soll. Sie habe bis zu 6000 Euro netto erhalten – „ein ganzes Nettogehalt zusätzlich zu den 16 regulären Gehältern“, schreibt die „Zeit“. Der Ehemann sah dies als „Blutgeld“ an – doch seine Ehefrau bestritt die Vorwürfe gegen Peter S. gegenüber den Ermittlern. Anwälte von Peter S. bezeichneten die Vorwürfe laut der Zeitung als „ungeheuerlich“ – woraufhin die Ermittler die Vorwürfe fallenließen.

Medien berichten über Ermittlungen gegen PTAs

Laut dem Bericht wird seit Juli 2017 auch gegen zwei Zyto-Laboranten ermittelt. „Mittlerweile geht die Staatsanwaltschaft davon aus, dass zumindest zwei von ihnen in seine Machenschaften eingeweiht waren“, heißt es in dem Artikel. Neben Klein und Porwoll hätte unter Berufung auf das Auskunfts- und Zeugnisverweigerungsrecht kaum ein Mitarbeiter bei der Staatsanwaltschaft ausgesagt. „Es wirkt wie ein Schweigekartell“, schreibt die Zeitung. Anwälte der Mitarbeiter hätten keine Stellung zu den Vorwürfen nehmen wollen. Die Staatsanwaltschaft erklärte auf Nachfrage von DAZ.online, Verdachtsmomente, dass es Mitwisser gäbe, hätten sich „bisher nicht erhärtet“. Peter S. schweigt bislang und reagierte auch auf Anfragen von DAZ.online an seine Anwälte nicht.

In dem „Zeit“-Artikel werden auch weitere Vorwürfe gegen Peter S. erhoben. So wusste er sich „bei Ärzten beliebt zu machen“, heißt es: Einen Bekannten von ihm habe er mit Bargeld losgeschickt, um die neusten iPhones zu kaufen – welche an die Mitarbeiter von Arztpraxen in der Umgebung verschenkt worden seien sollen. „Einem Mediziner stellte er eine Großkatze aus schwarzem Stein vor die Tür, 300 Kilogramm schwer“, schreibt die Zeitung.

Wie auch in einem „Panorama“-Bericht geht der Artikel außerdem auf die Privatperson Peter S. ein – er wird als Einzelgänger beschrieben, der unter starkem Druck seines Elternhauses gestanden haben soll: Eigentlich habe S. Banker werden sollen, doch seine Eltern waren Pharmazeuten – und er habe die Apotheke übernehmen sollen. „Der wollte eigentlich nicht Apotheker werden“, erklärt der Journalist David Schraven bei „Panorama“. Er kennt S. aus frühen Jahren. Nun recherchiert er als Geschäftsführer des Recherchebüros Correctiv selber zu dem Fall.



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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