Neue Analyse

Zehntausende Fachartikel basieren auf kontaminierten Zelllinien

Stuttgart - 23.10.2017, 16:40 Uhr

Oft untersuchen Wissenschaftler nicht die Zelllinien, die sie eigentlich für ihre Experimente analysieren wollen. (Foto: Photographee.eu / stock.adobe.com)

Oft untersuchen Wissenschaftler nicht die Zelllinien, die sie eigentlich für ihre Experimente analysieren wollen. (Foto: Photographee.eu / stock.adobe.com)


Für mehr als 450 Zelllinien ist bekannt, dass sie seit teils Jahrzehnten kontaminiert sind. Nach einer aktuellen Studie wurden diese fehlerhaften Zelllinien in knapp 33.000 Fachartikeln verwendet. Niederländische Forscher fordern, dass die betroffenen Artikel als wissenschaftlich fragwürdig gekennzeichnet werden.

In mehr als 30.000 Fachartikeln haben Wissenschaftler Zelllinien verwendet, die offenbar kontaminiert waren, ergab eine Analyse der Wissenschaftsforscher Serge Horbach und Willem Halffman von der Radboud-Universität im niederländischen Nijmegen. Schon lange ist bekannt, dass viele Zelllinien verunreinigt sind. Das Internationale Zelllinien-Authentifizierungs-Komitee hat bislang gut 450 problematische Zelllinien identifiziert. Für diese analysierten die Forscher, wie oft sie jeweils verwendet wurden, berichten sie in dem Fachmagazin „PLOS ONE“ – wahrscheinlich liegt die Zahl jedoch viel höher, da vermutlich weitere Zelllinien betroffen sind. „Man muss annehmen, dass all diese Primärliteratur auf Grundlage falscher Annahmen gemacht wurden“, erklären die Wissenschaftler in ihrem Artikel. Daher sollten die Ergebnisse mit Vorsicht genossen werden.

Ein Problem liegt beispielsweise darin, dass Zellen der Zelllinie HeLa – die von der Krebspatientin Henrietta Lacks gewonnen und seitdem vielfach eingesetzt wurden – auf andere Zelllinien übertragen wurden. „Die Geister von HeLa: Wie die Falschidentifizierung von Zelllinien die wissenschaftliche Literatur kontaminiert“, heißt daher auch der aktuelle Artikel. Er zeigt auf, dass 2600 der betroffenen Artikel mehr als 100 mal zitiert wurden, davon 46 sogar mehr als 1000 mal. Insgesamt haben sich nach der Analyse rund eine halbe Million Fachartikel auf die knapp 33.000 problematischen Studien bezogen.

Die Anzahl der betroffenen Artikel hat die Autoren von der Radboud-Universität dabei nur auf den ersten Blick überrascht, sagten sie dem Online-Portal „Retraction Watch“ – denn aufgrund der vielen Studien in diesem Bereich handele es sich um weniger als ein Prozent der Artikel, die zu Zelllinien veröffentlicht wird. Erschrocken waren sie jedoch darüber, dass weiterhin Artikel auf falsch identifizierten Zelllinien beruhen – obwohl die Probleme teils schon seit den 1960er-Jahren bekannt sind.

Die Autoren fordern Warnhinweise

„Unsere Analyse zeigt, dass sowohl die Anzahl an veröffentlichten Artikel mit falsch identifizierten Zelllinien als auch die Zahl der Artikel, die auf diese verweisen, weiterhin anwachsen“, erklären sie. „Dies zeigt ganz klar, dass es nicht ausreichend ist, Forscher nur auf die Probleme mit falsch identifizierten Zelllinien hinzuweisen.“

Einige der Wissenschaftler hätten ihnen gegenüber beispielsweise gesagt, dass sie von der Fehlidentifizierung wussten – es aber für ihre Schlussfolgerungen „keinen Unterschied mache“. Tatsächlich könnten im Einzelfall die Ergebnisse tatsächlich valide sein, erklären die Autoren gegenüber „Retraction Watch“. Doch fordern sie, dass Warnhinweise bei den Veröffentlichungen auf die Probleme aufmerksam machen. Ein Text wie „Zelllinie X aus dieser Studie ist bekanntermaßen falsch identifiziert – tatsächlich handelt es sich um Zelllinie Y“ soll dazu dienen, dass die Ergebnisse mit Vorsicht genossen werden.

Redakteure von Fachzeitschriften sollten sich außerdem dem Problem annehmen, um weitere Publikationen mit falsch identifizierten Zelllinien zu vermeiden, fordern sie. Immer günstiger werdende genetische Tests können außerdem feststellen, ob es sich tatsächlich um die Zelllinien handelt, die Forscher jeweils verwenden wollen.



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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