Arzneiverordnungs-Report 2017

AOK will mit Apothekern bei Biosimilars sparen

Berlin - 04.10.2017, 15:00 Uhr

Der AVR hat zwei neue Herausgeber: den WIdO-Chef Jürgen Klauber und den AkdÄ-Vorsitzenden Wolf-Dieter Ludwig. Am 4. Oktober wurde der neue Report in Berlin vorgestellt. (Fotos: AOK-Bundesverband)

Der AVR hat zwei neue Herausgeber: den WIdO-Chef Jürgen Klauber und den AkdÄ-Vorsitzenden Wolf-Dieter Ludwig. Am 4. Oktober wurde der neue Report in Berlin vorgestellt. (Fotos: AOK-Bundesverband)


Die GKV-Arzneimittelausgaben sind 2016 mit 3,6 Prozent moderat gestiegen. Dennoch schlagen die Herausgeber des Arzneiverordnungs-Reports Alarm: Es würden nicht nur mehr, sondern vor allem immer teurere Arzneimittel verordnet, kritisieren sie. Sparideen haben sie viele im Sinn. So sollten etwa mehr Biosimilars eingesetzt werden. AOK-Chef Martin Litsch sprach sich sogar dafür aus, auch Apothekern die Substitution zu ermöglichen.

Die Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenkassen inklusive der Zuzahlung der Versicherten betrugen 2016 rund 38,5 Milliarden Euro. Gegenüber dem Vorjahr sind sie um 3,9 Prozent gestiegen. Und das, obwohl Rabattverträge den Kassen 3,9 Milliarden Euro gespart haben und Erstattungsbeträge zu Einsparungen von 1,4 Milliarden Euro führten. Zugleich erhöhte sich das Verordnungsvolumen nur um 2,1 Prozent. Für Ulrich Schwabe, langjähriger Herausgeber des Arzneiverordnungs-Reports (AVR), zeigen diese Zahlen: „2016 wurden mehr, aber vor allem auch teurere Arzneimittel verordnet.“ Hauptkostentreiber seien fünf Indikationsgruppen gewesen: Onkologika, Immunsuppressiva, Antidiabetika, antithrombotische Mittel und Ophthalmika. Schwabe kritisierte bei der Vorstellung des neuen AVR am heutigen Mittwoch in Berlin, dass die Preise neuer patentgeschützter Arzneimittel trotz der Weichenstellung des Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetzes (AMNOG) im Jahr 2011 stiegen – er wünscht sich, dass die Politik den „jahrelangen Rückbau des erfolgreichen AMNOG“ wieder beendet. Tatsache sei jedoch, so Schwabe, „dass patentgeschützte Arzneimittel mehr kosten als sie wert sind“.

Deutschland bleibt Hochpreisland

Dies zeige auch der Preisvergleich mit anderen europäischen Ländern. In diesem Jahr haben die AVR-Autoren die deutschen Listenpreise der 250 umsatzstärksten Patentarzneimittel abzüglich gesetzlicher Abschläge und Rabatte den Preisen in acht europäischen Ländern mit vergleichbarer Wirtschaftskraft gegenübergestellt. Deutschland schnitt dabei als das teuerste Land ab. Jürgen Klauber, Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) und seit diesem Jahr ebenfalls AVR-Herausgeber, erklärte, bei einer konservativen Rechnung bestehe für Deutschland ein Sparpotenzial von 13,3 Prozent oder 1,5 Milliarden Euro.

Biosimilars: Sparpotenzial noch lange nicht erschöpft

Die AVR-Herausgeber legten auch ein besonderes Augenmerk auf die gentechnologisch hergestellten Biologika, die immer mehr an Bedeutung gewinnen. Mittlerweile sei fast jeder dritte neue Wirkstoff ein Biologikum. Von 2006 bis 2016 habe sich ihr Umsatz von 3,1 Milliarden Euro auf 7,8 Milliarden Euro erhöht. Inzwischen sind die ersten dieser Arzneimittel aus dem Patent gelaufen und immer mehr Biosimilars treten als Mitbewerber auf den Plan. Für sieben Wirkstoffe gibt es diese Nachahmer bereits. Sie setzen sich bislang allerdings nur zögerlich durch – einige mehr, andere weniger. Die Einsparungen sind noch gering. Auch weil die Biosimilars nur etwa 20 Prozent günstiger sind als ihre Originale – im Bereich der synthetisch-chemischen Wirkstoffe ist man bei Generika ganz andere Abschläge gewohnt. Entscheidend sei nun, wie sich der Biosimilarmarkt weiterentwickle, betonte Klauber. Er verwies auf eine Studie, nach der die Entwicklungskosten nur bei einem Viertel des Originals liegen sollen. „Es bleibt bei Biosimilars also noch viel Luft nach unten“, so der WIdO-Chef. 

Biosimilars-Austausch durch Apotheker?

Auch Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) und ebenfalls neuer Mit-Herausgeber AVR, ist ein Biosimilar-Fürsprecher. Dass sie sich nur langsam im Markt behaupten, führt er vor allem auf Desinformation und darauf beruhenden Bedenken zurück: Es werde behauptet, die Biosimilars seien eben nur ähnlich, aber könnten nicht gleichwertig ausgetauscht werden. Doch die Erfahrung der vergangenen Jahre zeige: Bislang konnte bei keinem Biosimilar ein relevanter Unterschied zum Original hinsichtlich pharmazeutischer Qualität, therapeutischer Wirksamkeit, Sicherheit und Nebenwirkungen festgestellt werden. Die AkdÄ hat daher auch kürzlich einen Leitfaden herausgegeben, der Ärzte zum vermehrten Biosimilar-Einsatz ermutigen soll.

Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes

Der Chef des AOK-Bundesverbands, Martin Litsch, sieht ebenfalls noch ungenutztes Sparpotenzial bei Biosimilars und wünscht sich Zielvereinbarungen, um dieses zu heben. Er könnte sich zudem vorstellen, noch einen Schritt weiter zu gehen als die AkdÄ: Er findet es eine „gute Idee“, auch Apothekern die Möglichkeit der Biosimilar-Substitution einzuräumen, so wie es heute bei Generika selbstverständlich ist. Ludwig hat da noch Bedenken – der AkdÄ-Leitfaden will dies explizit nicht. Der Onkologe erklärt dies damit, dass die meisten Biosimilars heute ohnehin im Krankenhaus zum Einsatz kommen und in der Apotheke keine Rolle spielen. Zudem hat er seine Zweifel, ob die Aufklärung der Patienten und die Erfassung verschiedener Daten (z.B. Chargennummer) in der Apotheke gewährleistet sein würden. Allerdings: Dies sei sein Standpunkt 2017 – möglicherweise sehe er dies in Zukunft anders, räumte Ludwig ein.

Beschleunigte Zulassungen als Problem

Der AkdÄ-Chef kritisierte zudem eine weitere Entwicklung im Arzneimittelmarkt: Die steigende Welle beschleunigter Zulassungen in Europa. 1995 habe es die erste dieser Art gegeben. Zuvor war es die US-amerikanische FDA, die diesen Weg gegangen war. Hintergrund war damals HIV/Aids – man wollte Patienten möglichst schnell Arzneimittel zur Verfügung stellen. Voraussetzung für eine beschleunigte Zulassung ist ein bislang ungedeckter medizinischer Bedarf. Damit sind auch Orphan Drugs erfasst, deren Anzahl ebenfalls beständig steigt. Ludwig betonte, dass die ursprüngliche europäische Orphan Drug-Regelung richtig und wichtig war. Sie werde mittlerweile jedoch „schamlos von großen Pharmaherstellern missbraucht“. Die Folge: Bei der Zulassung liegen keine fundierten Studiendaten für die Arzneimittel vor. Und später werden sie zumeist auch nicht nachgereicht. Es sei ein Problem für Ärzte und Patienten, dass viel Geld für Arzneimittel ausgegeben werde, die man eigentlich nicht kenne.

Forderungen der AOK und Kritik der Hersteller

Doch welche Forderungen ergeben sich letztlich aus den Erkenntnissen des AVR? AOK-Chef Litsch zeigte einige ganz konkrete Wünsche auf: Arzneimittel, die beschleunigt zugelassen wurden, sollten nur in qualifizierten Zentren angewendet werden, wo konzentriert Erfahrungen mit ihnen gesammelt werden können. In diesen Zentren sollte dann auch eine pharmaunabhängige Forschung etabliert werden – finanziert mittels eines Fonds, in den die Hersteller einzahlen. Zudem müsse die EMA stringenter vorgehen und Sanktionen gegen Hersteller umsetzen, die Auflagen nicht erfüllen. Nicht zuletzt fordert Litsch, gegen die Mondpreise vorzugehen: Mit einer Rückwirkung des Erstattungsbetrags auf den ersten Tag des neuen Arzneimittels im Markt. Außerdem müssten künftige Erstattungsbetrags-Verhandlungen konsequent am Zusatznutzen und den Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie ausgerichtet sein. Preise anderer hochpreisiger Arzneien, gerade solcher des Bestandsmarktes, dürften keine Rolle spielen.

Festbetragsregelung bietet noch Möglichkeiten

Die AVR-Autoren bringen zudem einen weiteren Vorschlag ins Spiel: Aus ihrer Sicht kann noch mehr durch Festbeträge gespart werden. Zwar nicht im Bereich der Generika, aber bei den pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren Wirkstoffen. Dort, so Schwabe, gebe es „noch viele interessante Möglichkeiten". Im Auge hat er speziell stark wirkende Opioidanalgetika, TNF-Inhibitoren und spezielle Antidepressiva.

Wie reagieren die Hersteller-Verbände?

Die Herstellerverbände ließen mit ihren Reaktionen nicht lange warten. Der Verband forschender Pharmaunternehmen (vfa) erinnerte daran, dass man auch die Erfolge der Branche sehen: So habe es wichtige therapeutische Durchbrüche, etwa die Heilung der Hepatitis-C-Patienten, gegeben. Und auch in der Onkologie gebe es viele Fortschritte. Zudem gebe es einen Preiswettbewerb nach dem Patentablauf.  

Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) verwies darauf, der Anteil der pharmazeutischen Industrie an den GKV-Ausgaben auf rund 8 Prozent gesunken sei – für die gesamte ambulante Arzneimittelversorgung. „Damit wird deutlich, dass die Ausgabenentwicklung bei Arzneimitteln kein Risikofaktor für die Finanzierung der GKV darstellt“, folgert daraus der stellvertretende Geschäftsführer Dr. Norbert Gerbsch. Er wirft den AVR-Autoren selbst Versäumnisse vor: In ihrem Report finde sich „kein Wort zu den Auswirkungen der Sparpolitik für die Versorgung mit Generika, kein Wort zu den fehlenden wirtschaftlichen Grundlagen für Weiterentwicklungen unter Preismoratorium und kein Wort, dass fast ein Drittel der Arzneimittel, die der Frühen Nutzenbewertung unterliegen, in Deutschland nicht oder nicht mehr verfügbar sind“. 

Dr. Hermann Kortland, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH), warnte vor einer Ausweitung der Festbetäge: „Das Festbetragssystem verhindert, dass Innovationen beim Patienten ankommen.“ Dabei denkt er an Weiterentwicklungen wie altersgerechte Darreichungsformen. Kortland wies zudem auf den wichtigen Stellenwert der Orphan Drugs hin, die nur einer sehr kleinen Patientengruppe zugutekommen. Bevor die europäische Arzneimittelagentur EMA eine solche Zulassung vergebe, prüfe sie genau, ob der Nutzen des Arzneimittels die Risiken überwiegt.



Kirsten Sucker-Sket (ks), Redakteurin Hauptstadtbüro
ksucker@daz.online


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