Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten

Gerinnungs-Selbstmanagement: Mehr Lebensqualität und sogar mehr Schutz? 

Berlin - 01.08.2017, 16:30 Uhr

Die Gerinnungselbstmessung ähnelt der Blutzuckermessung (Foto: fotoart-wallraf / Fotolia)

Die Gerinnungselbstmessung ähnelt der Blutzuckermessung (Foto: fotoart-wallraf / Fotolia)


Eine ganze Reihen von Patienten, die Vitamin-K-Antagonisten (VKA) wie Marcumar oder Falithrom einnehmen, setzen auf das sogenannte Gerinnungs-Selbstmanagement (GSM). Dieses vermindert nicht nur den organisatorischen Aufwand für Patient und Arzt, sondern senkt offenbar auch das Risiko thromboembolischer Ereignisse. Und auch die Apotheke  kann sich einbringen – von der Kundenbindung durch die Beratung bis hin zu Schulungsangeboten.

Gegenwärtig stehen in Deutschland etwa eine Million Menschen aufgrund von künstlichen Herzklappen, Vorhofflimmern oder Thrombophilie unter dauerhafter oraler Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA). Diese Wirkstoffe – in Deutschland ist das vor allem Phenprocoumon – bedingen im Gegensatz zu den neuen oralen Antikoagulantien ein regelmäßiges Monitoring der Prothrombinzeit (PT) durch Messung des INR- bzw. Quickwertes. Dies übernimmt in der Regel der Arzt. 

Seitdem in den 1990er-Jahren handliche Point-of-Care (POC)-Koagulometer auf den Markt gekommen sind, mit denen die INR durch Aufbringen eines Tropfens Kapillarblut aus der Fingerbeere auf einen Teststreifen bestimmt werden kann, besteht die Möglichkeit, dass der Patient selbst die regelmäßigen INR-Kontrollen vornimmt und seine Medikamentendosis selbstständig anpasst.

Welche Geräte und Methoden gibt es?

Die INR-Bestimmung mit einem POC-Koagulometer ist vergleichbar mit der Blutzuckermessung. Bei dem (in Deutschland von den meisten Patienten verwendeten) Koagulometer CoaguChek® XS befinden sich auf dem Testfeld Eisenoxidpartikel, die durch zwei Magnetfelder in ständiger Bewegung gehalten werden. Die durch das Thromboplastin hervorgerufene Blutgerinnung stoppt diese Bewegung, die reflexionsphotometrisch erfasst wird. Das Koagulometer Alere INRatio® 2, das im Juli 2016 allerdings vom Markt genommen wurde, bestimmt den Gerinnungszeitpunkt über die Veränderung der Impedanz der Blutprobe durch die Bildung des Fibrin-Gerinnsels. Bei einer retrospektiven Analyse der Daten von 4326 Patienten haben die Autoren weder hinsichtlich thromboembolischer Ereignisse noch hinsichtlich der TTR relevante Unterschiede zwischen den beiden Geräten gefunden und beiden eine ausreichende Genauigkeit für das Patienten-Selbstmanagement bestätigt.

MicroINR®, ein neueres Gerät, das in der zitierten Übersichtsarbeit noch nicht berücksichtigt ist, bestimmt den Gerinnungszeitpunkt photometrisch. Es zeichnet sich durch ein besonders kleines Probenvolumen von nur 3 µl aus und soll nach Angaben des Herstellers weniger empfindlich gegen Erschütterungen sein . 


Dieser Artikel ist in seiner ursprünglichen Fassung erschienen in DAZ 2016, Nr. 13 unter dem Titel: „Flexibler und besser geschützt : Viele Vorteile für Phenprocoumon-Patienten, die ihren Gerinnungsstatus selbst kontrollieren“

Was kann die Apotheke tun?

Die Schulung des Patienten zur richtigen Messtechnik und Interpretation der Messwerte erfolgt in spezialisierten Schulungszentren. Laut CoaguChek-Hersteller Roche können sich auch Apotheken qualifizieren. In Deutschland gibt es etwa 1200 davon. Laut Erst mit dem Schulungszertifikat kann die Verordnung des Arztes bei der Krankenkasse zur Genehmigung eingereicht werden.

Der Patient erwirbt die vom Arzt verordneten Teststreifen in der Regel in einer Apotheke, die ihm bei der Abgabe noch einmal nützliche Hinweise zur Durchführung der Messung geben sollte, beispielsweise zur Dosiskorrektur: Der Patient sollte deren Auswirkung zwei Tage später durch eine zusätzliche INR-Messung überprüfen. Bei Umständen, die die Blutgerinnung beeinflussen könnten wie fiebrige Erkrankungen, Flüssigkeitsmangel infolge starker Durchfälle oder der Beginn einer Diät, muss die INR engmaschiger kontrolliert werden. Die Messung sollte stets zur gleichen Tageszeit erfolgen. Vor der Gewinnung des Blutstropfens, die mit den gängigen Stechhilfen erfolgt, sollte der Finger gewaschen und gut abgetrocknet werden, eine Desinfektion ist aber nicht notwendig. Die Punktionsstelle darf nicht gequetscht werden, da austretendes Gewebsthromboplastin die Messung verfälschen könnte. Gleich der erste dicke Blutstropfen, der austritt, wird für die Messung verwendet. Kritisch ist die Zeit, die zwischen der Punktion und dem Auftragen des Blutstropfens auf den Teststreifen verstreicht: Sie darf maximal 15 Sekunden betragen.

Mehr Lebensqualität für den Patienten

Erleichternd für den Patienten ist, dass die Teststreifen für die heutigen Koagulometer – im Gegensatz zu früheren Modellen – nicht mehr im Kühlschrank gelagert werden müssen. Für individuelle Fragen und Probleme im Umgang mit dem Gerät bieten die Hersteller von CoaguChek® XS und ­INRatio® 2 eine Patienten-Hotline an.

Warum das GSM die Lebensqualität vieler Patienten subjektiv erhöht, liegt auf der Hand: Die häufigen Arztbesuche zur Blutentnahme entfallen, in der Regel muss der Gerinnungsstatus nur noch einmal im Quartal mit dem Arzt besprochen werden. Gerade bei schwankenden INR-Werten ist es von Vorteil, dass das Ergebnis der Messung nicht erst einen Tag später aus dem Labor kommt, sondern sofort vorliegt, sodass eine schnelle Dosisanpassung möglich ist. 

Sind die Messgeräte zuverlässig?

Doch sind die mit POC-Koagulometern gemessenen Werte genauso zuverlässig wie die Werte aus dem Labor?  Eine Übersichtsarbeit von 2012 untersuchte sowohl die Genauigkeit als auch die Reproduzierbarkeit der Messwerte verschiedener POC-Koagulometer . Diese schwankten grundsätzlich in Abhängigkeit von verwendetem Gerät und konkreter Studie, doch befanden die Autoren sämtliche untersuchten Geräte, darunter auch die in Deutschland am häufigsten eingesetzten CoaguChek® XS und INRatio® 2, für ausreichend zuverlässig und damit akzeptabel für das Patienten-Selbstmanagement.

Und wie steht es mit der Häufigkeit von Komplikationen aus?  Hierzu sind in den letzten Jahren mehrere Übersichtsarbeiten und ein Cochrane-Review erschienen . Die Autoren kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass das Risiko für thromboembolische Ereignisse durch GSM im Vergleich zur konventionellen Betreuung durch den Arzt auf fast die Hälfte reduziert wird. Dazu passen auch Daten, dass Patienten die ihren Gerinnungsstatus selbst kontrollieren, sich zu über 80 Prozent eines Zeitraums im therapeutisch angestrebten INR-Bereich befinden (Time in therapeutic range, TTR), während die TTR bei ärztlicher Kontrolle teilweise unter 50 Prozent liegt.

Uneinheitlich sind nur die Daten zur Mortalität: Hier konnte nur in einigen Übersichtsarbeiten eine signifikant reduzierte Mortalität durch GSM beobachtet werden, in anderen blieb sie unverändert. Die Häufigkeit von schweren Blutungen wird durch die Art der Kontrolle nicht beeinflusst. Die deutlich niedrigere Komplikationsrate unter GSM im Vergleich zur Labordiagnostik nach Blutentnahme durch den Arzt beruht zum einen darauf, dass der Gerinnungsstatus im GSM. deutlich häufiger bestimmt wird (als Richtgröße gilt einmal wöchentlich). Zum anderen ist bei Patienten, die ihren Gerinnungsstatus selbst kontrollieren, häufig eine höhere Compliance zu beobachten. 

Und die Kosten?

Schließlich steht aus Sicht der Krankenkassen noch die Frage nach den Kosten im Raum. Hierzu finden sich in der Literatur verschiedene Hochrechnungen. Betrachtet man isoliert die Kosten für den Gerinnungshemmer und die INR-Bestimmung, so ist eine INR-Kontrolle durch den Arzt deutlich günstiger als durch den Patienten selbst. Eine aktuelle Übersichtsarbeit berechnete für den englischen Markt die Kosten in zehn Jahren mit durchschnittlich 1269 £ für die Standardversorgung durch den Arzt und 1717 £ für das Patienten-Selbstmanagement [6]. Rechnet man jedoch die Kosten für die Behandlung der auftretenden thromboembolischen Komplikationen mit ein, so kostet der durch den Arzt versorgte Patient 7324 £ und der Patient mit Selbstmanagement 6394 £. Die Zahlen variieren in anderen Hochrechnungen und sind sicher nicht direkt auf Deutschland übertragbar, doch wird deutlich, dass durch das GSM nicht automatisch Mehrkosten für die Krankenkasse entstehen.



Dr. Sabine Werner, Apothekerin und Redakteurin
readktion@daz.online


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