US-Studie

Neue „Superkräfte“ für das Reserveantibiotikum Vancomycin?

Remagen - 16.06.2017, 07:00 Uhr

 Antibiotika mit verbesserten Resistenzeigenschaften werden dringend
gebraucht – Vancomycin hat offenbar noch Potenzial. (Foto: jarun001 / Fotolia)

Antibiotika mit verbesserten Resistenzeigenschaften werden dringend gebraucht – Vancomycin hat offenbar noch Potenzial. (Foto: jarun001 / Fotolia)


Wissenschaftler aus dem US-Bundesstaat Kalifornien haben dem lebensrettenden Antibiotikum Vancomycin nach eigenen Angaben „neue Superkräfte“ verliehen – ein Fortschritt, der die drohenden Antibiotika-resistenten Infektionen für die kommenden Jahre beseitigen könnte, hoffen sie.

Forscher in der Abteilung für Chemie des The Scripps Research Institute (TSRI) im kalifornischen La Jolla beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der Weiterentwicklung des Reserveantibiotikums Vancomycin. Jetzt ist es ihnen gelungen, eine dreifach modifizierte Version mit erheblich verbesserten Eigenschaften herzustellen. Über die neue Errungenschaft hat die Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America berichtet.

Reserve und für viele die letzte Hoffnung

Das Glykopeptid-Antibiotikum Vancomycin wird zur Therapie von Infektionen mit grampositiven Bakterien eingesetzt. Deren Zellwand besteht aus parallel angeordneten Peptidoglykansträngen und diese wiederum aus einem Zuckerrückgrat und einer Oligopeptid-Seitenkette. Um eine optimale Stabilität zu erreichen, werden jeweils zwei Peptidseitenketten miteinander verbunden. Dadurch bekommt die Zellwand eine flächige Netzstruktur. Vancomycin lagert sich an das freie C-terminale Ende der Peptidseitenkette an und verhindert so die enzymatische Quervernetzung des Peptidoglykans. Bakterien haben einen relativ hohen osmotischen Druck, dem die Zellwand ohne die Quervernetzung nicht standhalten kann. Das Bakterium platzt.

Vancomycin wird bereits seit den 1950er-Jahren angewendet und ist bis heute eine wichtige antibiotische Option. Lange galt es als letzte Hoffnung zur Behandlung lebensbedrohlicher Infektionen mit grampositiven kugelförmigen Bakterien (Kokken). Staphylokokken kommen neben Enterokokken häufig in Krankenhäusern als Verursacher nosokomialer Infektionen vor. Doch seit einiger Zeit hat sein Status als „letzte Reserve“ wegen zunehmender Resistenzen Risse bekommen. Ein Ausweg wären Molekülvariationen, die die Resistenzbildung ausschalten können. 

„Magisches“ Antibiotikum

Der Leiter des Forscher-Teams vom TSRI Dale Boger bezeichnet Vancomycin wegen seiner nachgewiesenen Potenz gegen Infektionen als „magisch“ und als idealen Ausgangspunkt für die Entwicklung besserer Antibiotika. In früheren Studien war es ihm und seinen Kollegen bereits gelungen, zwei Modifikationen des ursprünglichen Vancomycin-Moleküls (Vancomycin 1.0) herzustellen und es damit noch potenter zu machen (Vancomycin 2.0).

In der aktuellen Studie haben die Wissenschaftler jetzt noch eine dritte Modifikation hinzugefügt, die auf eine neue Art und Weise mit der Zellwand der Bakterien interferiert (Vancomycin 3.0). „Die neue Version macht Vancomycin zu dem ersten Antibiotikum mit drei unabhängigen Wirkmechanismen“, betont Boger. Kombiniert mit den vorherigen Modifikationen soll diese Veränderung nach den Experimenten der Wissenschaftler eine 1000-fache Erhöhung der Aktivität von Vancomycin gegenüber der Urspungsversion bringen. Dies bedeutet, dass deutlich geringere Dosen nötig wären, um Infektionen zu bekämpfen.

Damit haben die Bakterien es schwer

Die neue Variante wurde an Enterokokken getestet und tötete sowohl ursprüngliche Formen als auch Vancomycin-resistente zuverlässig und auch nach zahlreichen Behandlungen ohne Resistenzbildung ab. Boger erklärt diesen Erfolg so: „Die Organismen können sich nicht gleichzeitig damit beschäftigen, drei unabhängige Wirkmechanismen zu knacken. Selbst wenn sie eine Lösung für einen davon gefunden haben, würden sie immer noch durch die beiden anderen erledigt werden.”

Nun müssen die Forscher weiter an einem Weg arbeiten, um das dreifach modifizierte Vancomycin mit weniger Aufwand im Labor zu synthetisieren. Im Moment sind hierfür 30 Herstellungsschritte nötig. Das hält der Vancomycin-Spezialist jedoch für den „einfachen Teil“ des Projekts, verglichen mit der Herausforderung, das Molekül überhaupt erst einmal zu entwerfen.  

Änderung der Fachinfos für Vancomycin-haltige Arzneimittel

Vancomycin mit verbesserten Resistenzeigenschaften würde dringend gebraucht. Es steht unter anderem auf der neuen Liste der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit zwölf Bakterien-Familien, die wegen zunehmender Resistenzen Sorge bereiten und für die dringend neue Antiinfektiva benötigt werden. Enterococcus faecium und Staphylococcus aureus sprächen nicht mehr zuverlässig auf das Reserveantibiotikum Vancomycin an, lautet die Begründung.

Ende Mai 2017 hatte der Ausschuss für Humanarzneimittel bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA im Rahmen eines europäischen Risikobewertungsverfahrens Empfehlungen zur Anpassung und Harmonisierung der Fachinformationen von Vancomycin-haltigen Arzneimitteln beschlossen.

Die spanische Arzneimittelbehörde (AEMPS) hatte im März 2016 die Neubewertung im Kontext der Resistenzentwicklungen angeregt. Für manche Indikationen gibt es Einschränkungen und außerdem Hinweise bezüglich der Dosierung.

Die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker bittet die Apotheken, den rationalen Einsatz des Glycopeptid-Antibiotikums bei Infektionen mit grampositiven Bakterien zu unterstützen.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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