Großbritannien

Apotheker werden zur ersten Anlaufstelle bei leichten Erkrankungen

Berlin - 05.04.2017, 10:00 Uhr

Neue Aufgaben: In England sollen Apotheker in der Primärversorgung noch mehr Aufgaben übernehmen. (Foto: DAZ.online)

Neue Aufgaben: In England sollen Apotheker in der Primärversorgung noch mehr Aufgaben übernehmen. (Foto: DAZ.online)


Der National Health Service England hat seine Versorgungspläne für die nächsten zwei Jahre veröffentlicht. Die Rolle des Apothekers in England könnte sich dadurch nachhaltig verändern: Die Pharmazeuten sollen mehr in die Primärversorgung eingebunden werden und Anlaufstelle bei vielen Gesundheitsfragen sein.

Im Jahr 2014 hatte der National Health Service England (NHS) einen Fünf-Jahres-Plan für die Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung präsentiert („Next Steps on the NHS Five Year Forward“). Nach drei Jahren wird nun eine Zwischenbilanz gezogen und der Kurs weiter fokussiert. 

Fehlbelegung in Krankenhäusern

Der Plan bezieht sich insgesamt auf die Gestaltung der Versorgungsstrukturen des NHS, wobei die Krankenhäuser entlastet und den Patienten mit geringfügigen Gesundheitsstörungen ein besseres Netzwerk mit Behandlungsoptionen außerhalb der Krankenhäuser angeboten werden sollen. Hierbei sollen auch die Apotheker eine wichtige Rolle spielen. Derzeit seien rund 2500 Krankenhaus-Betten mit Patienten besetzt, die eigentlich keine stationäre Behandlung mehr brauchen, so wird bemängelt, die aber nicht entlassen werden können, weil die soziale Fürsorge nicht geregelt ist oder wegen Verzögerungen der ambulanten Anschlussbehandlung.

Überlastung der Notfalleinrichtungen

Aus diesem Grund richtet sich das Maßnahmenpaket konsequenterweise auf den Ausbau der Primärversorgung und die Entlastung der Notfalleinrichtungen. Jedes Jahr kommt es in England nach Angaben des NHS zu rund 110 Millionen dringenden Arztkontakten. Schätzungen zufolge sollen bis zu drei Millionen Patienten mit geringfügigen Gesundheitsstörungen bei Notfalleinrichtungen vorstellig werden, die eigentlich lebensbedrohlichen Fällen vorbehalten sein sollten, den so genannten „A&E departments“.

Notrufnummer als Verteiler

Sie sollen in Zukunft frühzeitig woanders hingeleitet werden, und zwar bevorzugt direkt in die nächste Apotheke. Ein wichtiges Instrument hierfür ist die zentrale Notrufnummer des NHS (NHS 111). Im Laufe dieses Jahres soll damit begonnen werden, über den Electronic Prescription Service (EPS) eine nahtlose Verbindung zwischen der NHS 111 und den Notdiensten der Allgemeinärzte zu den Apotheken herzustellen. Dieses Vorhaben steht im Zusammenhang mit den Plänen zur Weiterentwicklung der öffentlichen Apotheken des Landes über das Maßnahmenpaket „Community Pharmacy 2016/17 and beyond: final package”.

Die Nummer soll demnächst auch online angeboten werden. Dort sollen die Patienten ihre Symptome dann direkt eingeben und unmittelbar einer adäquaten Behandlung zugewiesen werden können.

Apotheker erhalten Zugang zur Patientenakte

Zudem sollen bis Dezember 2017 die A&Es sowie andere Notdiensteinrichtungen (urgent care centres) und auch die Apotheken Zugang zu Patientendaten erhalten, entweder über die Patientenakte Summary Care Record (SCR) oder lokale Dienste für den Austausch von Versorgungsdaten. Mehr als 96 Prozent der englischen Bevölkerung haben einen SCR. Er wird im gesamten National Health Service an vielen Stellen bereits erfolgreich eingesetzt. Zugang haben bislang – mit Zustimmung des Patienten – autorisierte medizinische Fachkräfte, unter anderem auch Krankenhausapotheken.

Auch abends und am Wochenende zum Arzt

Um die Gesundheitsversorgung der Berufstätigen zu verbessern, soll bis März 2018 für 40 Prozent des Landes die Möglichkeit geschaffen werden, entweder am Abend oder am Wochenende einen Allgemeinarzt in Anspruch zu nehmen. Bis März 2019 soll dies dann flächendeckend möglich sein. Außerdem sollen die Hausärzte in Zukunft erheblich stärker auf die Unterstützung durch klinische Pharmazeuten bauen, und zwar direkt in der eigenen Praxis. Das Modell ist schon angelaufen – bislang arbeiten rund 500 Apotheker direkt in Praxen – und soll bis März 2019 auf mehr als 1.300 aufgestockt werden, so lautet die Zielvorgabe.

Darüber hinaus will NHS England die Allgemeinärzte dazu ermutigen, in „Hubs" zusammenzuarbeiten, um gemeinsame Ressourcen zu teilen. Auch dabei sollen sie enger mit den Apothekern zusammenarbeiten, um sich deren Zuarbeit besser zunutze zu machen.

Einige OTC-Arzneimittel sollen raus aus der Versorgung

Kurz vor der Vorstellung der Vorhaben des NHS für die nächsten zwei Jahre waren Pläne bekannt geworden, wonach in absehbarer Zeit ein bestimmtes Sortiment von „geringwertigen“ Präparaten von der Verordnungsfähigkeit zulasten des NHS ausgeschlossen werden sollen.

Wie aus einer Mitteilung des britischen Apothekerverbandes, dem Pharmaceutical Services Negotiating Committees (PSNC) hierzu hervorgeht, sollen zunächst Empfehlungen zu ungefähr zehn Arzneimitteln entwickelt werden, die entweder als unwirksam, unnötig oder nicht als verordnungswürdig zulasten des NHS angesehen werden. Hierzu zählen zum Beispiel Gluten-freie Nahrung, Omega3-Vitamin-Supplemente und Reiseimpfungen. Im nächsten Schritt will NHS England dann noch weitere Arzneimittel mit einem geringen therapeutischen Wert bzw. OTC-Arzneimittel hinsichtlich eines etwaigen Ausschlusses aus der NHS-Versorgung unter die Lupe nehmen. Als Beispiele werden Erkältungsmittel, Antihistaminika sowie Mittel gegen Verdauungsstörungen oder Sodbrennen angeführt, allesamt Medikamente, die in Deutschland überwiegend schon lange nicht mehr erstattungsfähig sind. 

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Zwischen Staatsversorgung und einem Markt ohne Regeln

Die regionalen Unterbehörden (Clinical Commissioning Groups, CCGs) des NHS, die über die Verteilung der Gelder entscheiden, haben hierfür jährliche Einsparpotenziale in Höhe von bis zu 400 Millionen britischen Pfund errechnet.

Die Apotheker sind hiervon recht angetan. PSNC-Geschäftsführerin Sue Sharpe kommentiert: „Dies könnte dazu beitragen, die Allgemeinärzte zu entlasten, wenn der NHS gleichzeitig sicherstellt, dass die Menschen wissen, dass ihre Apotheke ihnen helfen kann, mit ihren Beschwerden umzugehen, und wenn er anerkennt, welche Dienstleistungen die Apotheken schon jetzt bieten und in Zukunft bieten könnten.“



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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