Tag der seltenen Krankheiten

„Forschen hilft heilen!"

Stuttgart - 28.02.2017, 16:05 Uhr

Vier von fünf seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt, daher sind oft schon Kinder betroffen. (Foto: dpa) 

Vier von fünf seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt, daher sind oft schon Kinder betroffen. (Foto: dpa) 


Seit 2008 wird in Europa immer am letzten Tag im Februar der „Rare disease day“, der Tag der selten Erkrankungen begangen, seit 2009 findet er weltweit statt. Ziel ist es, das Bewusstsein der Öffentlichkeit für seltene Erkrankungen zu stärken, für die es bislang kaum Therapien gibt. Das Motto dieses Jahr lautet daher „Forschen hilft heilen!"

Eine Erkrankung gilt als selten, wenn in der EU weniger als fünf von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind. In den USA lautet die Definition: Weniger als 200.000 US-Amerikaner sind erkrankt. Schätzungen zufolge sind zwischen 27 und 36 Millionen Menschen in der EU von solchen „rare diseases“  betroffen, das entspricht 6 bis 8 Prozent der EU-Bevölkerung. Allein in Deutschland sind es etwa vier Millionen. Die Zahl der unterschiedlichen Krankheitsbilder wird auf fünf- bis achttausend geschätzt. Etwa 80 Prozent davon sind genetisch bedingt, die Übrigen sind eine Folge von Infektionen, Allergien oder Umweltbedingungen. Auch degenerative oder proliferative Erkrankungen zählen dazu.

Bis die Diagnose gestellt wird, dauert es einer Analyse zufolge im Schnitt sieben Jahre. Oft haben Betroffene eine regelrechte Odyssee hinter sich, bis sie wissen, auf welche Krankheit ihre Symptome zurückzuführen sind. Zum einen sind die Symptome in vielen Fällen recht unspezifisch, so kommt es zu vielen Fehldiagnosen und überflüssigen Behandlungen. Zum anderen gibt es nur wenige Spezialisten. Je weniger Patienten es gibt, die an einer Krankheit leiden, desto weniger weiß man über Ursachen, Symptome und Behandlungsmöglichkeiten.

Seltene Erkrankungen – Häufige Erkrankungen

Auf der Website des vfa findet sich eine Vergleichsgrafik, die zeigt wie viele Besucher eines vollbesetzten Stadions mit 75.000 Plätzen statistisch von einer bestimmte Krankheit betroffen wären. Das soll zeigen, wie verbreitet einige ausgewählte Krankheiten in Deutschland sind.

Seltene Erkrankungen: Oft gibt es keine Therapie

Um die Schwierigkeiten um Diagnose und Therapie einer seltenen Erkrankung zu verringern, hat sich den vergangenen Jahren einiges getan. Dabei geht es vor allem um Vernetzung und Austausch. So wurde im Jahr 2010 das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen Erkrankungen gegründet, ein nationaler Aktionsplan folgte. Mittlerweile gibt es an den meisten Unikliniken in Deutschland spezielle Zentren – 27 im Ganzen. Patienten, die unklare Beschwerden haben, sollen möglichst schnell in einem solchen Zentrum landen.

Diagnosestellung ist das eine, Therapie das andere. Denn für viele seltene Erkrankungen gibt es keine Behandlungsmöglichkeiten. Für die Pharmaindustrie war das Thema lange nicht attraktiv – zu wenige Patienten. Erst mit Inkrafttreten der entsprechenden EU-Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden im Jahr 2000 hatte der Sektor etwas Fahrt aufgenommen. Gemäß dieser Verordnung können Arzneimittel  gegen seltene Leiden, für die es bislang noch keine ausreichende Therapie gibt – die sogenannten Orphan Drugs – ein vereinfachtes und günstigeres Zulassungsverfahren durchlaufen. Außerdem hat der Hersteller, der das jeweilige Arzneimittel auf den Markt bringt, ein alleiniges Vertriebsrecht für die zugelassene Indikation für die Dauer von zehn Jahren. 

Sonderstellung der Orphan-Drugs ist umstritten

Auch im Verfahren der frühen Nutzenbewertung nach AMNOG in Deutschland haben die Orphan Drugs derzeit einen Sonderstatus. Man geht bei diesen Arzneimitteln automatisch von einem Zusatznutzen aus, der G-BA entscheidet nur über das Ausmaß. Erst wenn der Hersteller mit dem Arzneimittel die Umsatzschwelle von 50 Millionen Euro pro Jahr überschreitet, sieht das Gesetz eine Nutzenbewertung nach dem üblichen Verfahren vor.

Doch diese Sonderbehandlung ist umstritten. So titelte vergangenes Jahr das Handelsblatt „Der Milliarden Trick“. Die Pharmaindustrie habe die seltenen Krankheiten als lukrative Geldquelle entdeckt, hieß es dort. Einer der Vorwürfe lautete, dass Pharmafirmen vor allem bei einer Krankheit aktiv seien, die keineswegs selten sei, aber das große Geld verspreche, nämlich bei Krebs. Dabei nutzen sie aus, dass sich anhand moderner Untersuchungsmethoden viel eher häufige Krebsarten unterteilen ließen, das sogenannte „Slicing“. Ein Vorwurf den die forschende Pharmaindustrie zurückweist. Zudem kritisierte das Handelsblatt die Ausnutzung der zehnjährigen Marktexklusivität, eine Zeit, in der die Hersteller nahezu ohne Korrektiv jeden Preis verlangen könnten.

„Vereinfachte Zulassung gefährdet die Sicherheit" 

Auch das IQWiG und die gesetzlichen Krankenkassen sind mit dem Sonderstatus der Orphan Drugs nicht glücklich. So verlautbarte der GKV-Spitzenverband bereits 2016, dass nur wenige dieser Arzneimittel dem Zusatznutzen, der ihnen per definitionem unterstellt wird, gerecht werden. So habe beispielsweise der G-BA bei neuen Präparaten ohne Orphan-Status nur für vier Prozent einen „nicht quantifizierbaren Zusatznutzen“ festgestellt, bei den Orphan Drugs sei das bei fast der Hälfte (47 Prozent) der Arzneimittel der Fall gewesen. Nur bei sechs Prozent sah man einen „beträchtlichen Zusatznutzen“.

Nach Ansicht des GKV-Spitzenverbandes müsse dem G-BA das Recht zugestanden werden, „in begründeten Einzelfällen auch bei Orphan Drugs das Nutzen- und Schadenpotenzial vollständig prüfen“ zu dürfen. Dass IQWiG sieht in vor allem Probleme bei der Patientensicherheit. Durch das vereinfachte Verfahren kommen Arzneimittel aufgrund weniger belastbarer Daten auf den Markt. Das erhöhe das Risiko für den Anwender. Der Verzicht auf eine Bewertung des Zusatznutzens bei Orphan Drugs habe sich nicht bewährt, schrieb das IQWiG in seinem Jahresbericht 2015. 

92 Orphan Drugs in der EU

Überhaupt medikamentös behandelbar ist derzeit nach Angaben des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI) nur etwa ein Prozent der seltenen Erkrankungen. In der EU hatten im Februar 2017 92 zugelassene Arzneimittel Orphan-Drug-Status. Darüber hinaus gibt es 37 Präparate  gegen seltene Krankheiten, die Orphan-Status hatten, ihn aber jetzt nicht mehr besitzen.  Entweder weil er von der Firma zurückgegeben wurde oder weil er verordnungsgemäß nach zehn Jahren abgelaufen ist.  Wie beim Zytostatikum Anagrelid, das als Erstes im Jahre 2000 diesen Status erhielt. 2004 wurde es unter dem Handelsnamen Xagrid zugelassen. Nach zehn Jahren Marktexklusivität verlor es den Orphan-Drug-Status. 1700 weitere Arzneimitteltherapien gegen seltene Erkrankungen sollen sich laut dem Bundesverband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) in der Entwicklung befinden.

Jüngst zugelassen wurden beispielsweise Alprolix (Wirkstoff Eftrenonacog alfa) zur Therapie einer bestimmten Form der Bluterkrankheit, der Hämophilie B und Coagadex, ein humaner Gerinnungsfaktor X zur Behandlung des Hereditärem Faktor-X-Mangels. Eine Übersicht aller zugelassenen Orphan-Drugs gibt es hier

 Motto „Forschen hilft heilen!"

Der „Rare disease day“, der Tag der selten Erkrankungen, soll  auf die Nöte und 
Anliegen von Betroffenen aufmerksam machen. Auch in Deutschland sind zum zehnten Mal zahlreiche Aktionen geplant, um die „Waisen der Medizin“ in den Fokus von Politik, Medizin, Forschung und Gesellschaft zu rücken. In diesem Jahr lautet das Motto „Forschen hilft heilen!". Mehr Informationen finden Sie unter anderem auf der Seite der „Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen" (ACHSE).



Julia Borsch, Apothekerin, Chefredakteurin DAZ
jborsch@daz.online


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