Polypharmazie

Ältere Amerikaner nehmen immer mehr Psychopharmaka

Stuttgart - 28.02.2017, 11:15 Uhr

Experten sehen den Trend als besorgniserregend an: Immer mehr ältere Menschen nehmen Psychopharmaka oder Schmerzmittel. (Foto: hetwig / Fotolia)

Experten sehen den Trend als besorgniserregend an: Immer mehr ältere Menschen nehmen Psychopharmaka oder Schmerzmittel. (Foto: hetwig / Fotolia)


Die Zahl der älteren Amerikaner, die drei oder mehr Medikamente mit Einfluss auf ihre Gehirnfunktion einnehmen, hat sich in nur einem Jahrzehnt mehr als verdoppelt. Dies zeigt eine neue Studie – die gleichzeitig darauf hinweist, dass oft keine ordnungsgemäße Diagnose durchgeführt wird.

Nach einer aktuellen Analyse von Daten des „Center for Disease Control and Prevention“ greifen immer mehr US-amerikanische Senioren zu Arzneimitteln, die ihre Hirnfunktion beeinflussen. Die Erhebung basiert auf einer repräsentativen Stichprobe von Arztpraxen zwischen 2004 und 2013. Die Analyse wurde von einem Team von Wissenschaftlern von der University of Michigan und des Gesundheitsversorgers für Senioren Veteran Affairs Ann Arbor Healthcare System (VAAHS) durchgeführt und im Fachmagazin JAMA Internal Medicine veröffentlicht. 

In zehn Jahren mehr als verdoppelt

Während im Jahr 2004 nur 0,6 Prozent der Arztbesuche von Personen über 65 Jahren mit Verordnungen von drei oder mehr Medikamenten mit Einfluss auf das Zentralnervensystem verbunden waren, hatte sich die Zahl im Jahr 2013 auf 1,4 Prozent erhöht. Bezogen auf die gesamte US-Seniorenbevölkerung bedeutet dies nach den Rechnungen der Autoren rund 3,7 Millionen Arztbesuche älterer Menschen pro Jahr, die drei oder mehr ZNS-Medikamente wie Opioide, Antidepressiva, Tranquilizer und Antipsychotika nehmen. 

Die stärkste Zunahme wurde bei Senioren in ländlichen Gebieten gefunden. Dort hat sich die Rate mehr als verdreifacht. „Der Anstieg, den wir in diesen Daten gesehen haben, könnte die erhöhte Bereitschaft der Senioren widerspiegeln, Medikamente für psychische Störungen einzunehmen“, sagt der Autor der Studie, Donovan Maust. Er ist geriatrischer Psychiater am akademischen medizinischen Zentrum der Universität Michigan. „Das ist besorgniserregend, auch wegen der Risiken, die damit verbunden sind“, erklärte er. Denn die kombinierte Anwendung mehrerer solcher Medikamente bringt spezielle Risiken mit sich: Angefangen bei Verletzungen, die sie bewirken können, bis hin zu Problemen beim Autofahren und dem Einfluss auf das Denken und das Gedächtnis. 

Oft keine ordnungsgemäße Diagnose

Was die Forscher außerdem beunruhigt, ist die Tatsache, dass fast die Hälfte der Senioren, die entsprechende Medikamentenkombinationen bekamen, offenbar keine formale Diagnose einer psychischen Gesundheitsstörung beziehungsweise von Schlaflosigkeit oder Schmerzen hatte. Dies sind die drei wichtigsten Indikationen, für die diese Arzneimittel in der Regel verschrieben werden.

Im Jahr 2015 hat die American Geriatric Society ihre Leitlinien zum Einsatz von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln bei älteren Menschen aktualisiert, die so genannten 2015 Beers Criteria. Zum ersten Mal betont dieses Update die Besorgnis über die unangemessene ZNS Polypharmazie. „Wir hoffen, dass die neueren Verschreibungsleitlinien die Gesundheitsversorger und die Patienten dazu ermutigen, die potenziellen Risiken und den Nutzen dieser Kombinationen zu überdenken“, fügt Maust an.

Jeder sechszehnte Arztbesuch mit Benzo-Verordnung

Der Michiganer Psychiater hat kürzlich zusammen mit zwei Kollegen seiner Universität und vom VAAHS noch zwei weitere Arbeiten über die Verwendung von ZNS-Arzneimitteln bei älteren Menschen veröffentlicht. Eine Erhebung, deren Ergebnisse in der Dezember-Ausgabe des Journal of the American Geriatric Society erschien, konzentrierte sich auf die Jahre 2007 bis 2010. 

Möglicher Trend zur Überverordnung

Laut der Studie hatten im Jahr 2010 gut 6 Prozent der Arztbesuche von Menschen im Alter von 65 oder älter ein Rezept für ein Benzodiazepin-Beruhigungsmittel ausgelöst. Mehr als ein Viertel dieser Besuche war zudem mit einer Verordnung eines Antidepressivums verbunden, und 10 Prozent mit einem Rezept für ein Opioid-Medikament.  

In einer weiteren Publikation, die im Januar zunächst online in der Fachzeitschrift Psychiatric Services veröffentlicht wurde, berichteten sie, dass mehr als die Hälfte von 231 älteren Patienten, die von ihrem Hausarzt wegen Depressionen ein Antidepressivum verschrieben bekommen hatten, keine schwere Depression (Major Depressive Disorder) hatten.

Die Befunde stammten allerdings aus einer randomisierten kontrollierten Studie, die auf die Verbesserung der Behandlung von Depressionen abzielte. Die Autoren betrachten das Ergebnis deshalb nicht als repräsentative Stichprobe älterer Amerikaner, argumentieren aber dennoch, dass ihre Befunde auf einen Trend zur Überverschreibung hindeuten könnten.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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