Neue Studie

Off-Label-Einsatz von Antidepressiva häufig ohne Evidenz

Stuttgart - 22.02.2017, 13:00 Uhr

Antidepressiva werden regelmäßig off label verschrieben. Hier braucht es mehr Forschung wie auch Patientenregister in Deutschland, fordert der Experte Jürgen Fritze. (Foto: Syda Productions / Fotolia)

Antidepressiva werden regelmäßig off label verschrieben. Hier braucht es mehr Forschung wie auch Patientenregister in Deutschland, fordert der Experte Jürgen Fritze. (Foto: Syda Productions / Fotolia)


Deutscher Experte benennt Stärken und Schwächen der Studie

Der Psychiater Jürgen Fritze, der bis 2012 als leitender Arzt des Verbandes der Privaten Krankenversicherung tätig war und Mitglied der Off-label-Expertengruppe Neurologie/Psychiatrie am BfArM ist, findet die BMJ-Studie „wunderbar“, wie er auf Nachfrage erklärt. Allerdings handele es sich um eine „vergleichsweise winzige Datenbasis“, sagt Fritze, der aktuell selber Verschreibungsdaten  von gesetzlich Versicherten auswertet  – ebenfalls von Antidepressiva.

Aufgrund seiner vorläufigen Auswertung kommt er teils zu anderen Ergebnissen als die kanadischen Kollegen – so beim trizyklischen Antidepressivum Amitriptylin, welches laut der aktuellen Studie zu mehr als 90 Prozent off label verschrieben worden sei. In Deutschland habe er keinen nennenswerten Off-label-Einsatz gefunden, erklärt Fritze – was offenbar unter anderem daran liegt, dass es hierzulande beispielsweise für Schmerzpatienten zugelassen ist. Da Amitriptylin einen größeren Teil der gesamten Off-label-Verschreibungen ausmacht, rechnet er mit einem insgesamt geringeren Off-label-Einsatz von Antidepressiva in Deutschland. Bei einigen Mitteln wie beispielsweise Trimipramin sind in Deutschland laut Fritze jedoch ähnliche Ergebnisse zu beobachten.

Forschungsministerium sei zuständig

Ohnehin seien Diagnosen und Indikationen im psychiatrischen Bereich nicht klar abgrenzbar, argumentiert Fritze. So werde beispielsweise das trizyklische Antidepressivum Opipramol bei sehr vielen psychischen Störungen verordnet, obwohl es laut Zulassung nur bei somatoformen Störungen und generalisierten Angsterkrankungen zugelassen sei. „Ich will es aber nicht als Skandal verkaufen, denn bei Licht betrachtet sind unsere ganzen psychischen Krankheiten ja nur Konstrukte und Konventionen“, erklärt der Psychiater: So gebe es regelmäßig Änderungen der Krankheits-Klassifikationssysteme DSM-5 oder ICD-10, die auch einen bisherigen zulassungsgemäßen Gebrauch zum Off-label-Use machen könnten.

Auch Fritze fordert dringend mehr Forschung. Es sei „ärgerlich“, dass die Generika-Hersteller mit Präparaten wie Opipramol „viel Geld verdienen – aber keine Studien finanzieren“, betont er. Naturgemäß hätten sie kein wirkliches Interesse, Studien durchzuführen. „Am Ende müssen es öffentliche Fördertöpfe sein“, sagt Fritze. Dafür zuständig sei primär das Bundesforschungsministerium. „Ein erster finanzierbarer Schritt könnte sein, dass man zu einer Auswahl von solchen Off-label-Indikationen Register führt“, erklärt er. „Dies wäre man meines Erachtens den Patienten schuldig.“



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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