Die Evidenzsprechstunde

Das Missverständnis mit der Zulassung

Stuttgart - 10.02.2017, 10:51 Uhr

Zulassung und evidenzbasierte Pharmazie nähern sich der Frage nach Nutzen und Schaden jeweils mit einem anderen Hintergrund. (Foto: zlikovec / Fotolia)

Zulassung und evidenzbasierte Pharmazie nähern sich der Frage nach Nutzen und Schaden jeweils mit einem anderen Hintergrund. (Foto: zlikovec / Fotolia)


„Was soll der ganze Quatsch mit der Studienbewertung? Das Mittel ist doch zugelassen, Punkt.“ Was auf den ersten Blick wie ein überzeugendes Argument aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen doch als Denkfehler:

Bei der Zulassung muss der Hersteller Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nachweisen“ – so lernen es Apothekerinnen und Apotheker im Studium. Das klingt erst einmal beruhigend. Warum sollte man sich im Rahmen der evidenzbasierten Pharmazie dann überhaupt noch mit der Bewertung von Studien und Therapieeffekten beschäftigen? Ist das nicht alles schon im Rahmen der Zulassung durch Experten geklärt?

Zugang für Therapieoptionen

Zulassung und evidenzbasierte Pharmazie nähern sich der Frage nach Nutzen und Schaden jeweils mit einem anderen Hintergrund. Bei der Zulassung klärt die Behörde die Voraussetzungen für einen grundsätzlichen Marktzugang von Therapieoptionen. Dabei wird überprüft, ob Nutzen und Risiken allgemein in einem akzeptablen Verhältnis stehen. Die Basis bilden Zulassungsstudien, die bestimmten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen müssen. Je nach Indikation ist es allerdings nicht immer notwendig, dass das neue Mittel tatsächlich gegen den derzeitigen Therapiestandard oder das am häufigsten verwendete Medikament getestet wird. 

In vielen Fällen genügt es auch, wenn die Auswirkungen des Medikaments auf Surrogatparameter gezeigt werden. Fehlen Daten zu patientenrelevanten Endpunkten, schlägt sich das zwar in den genannten Anwendungsgebieten nieder, verhindert bei vielen Indikationen aber nicht die Zulassung. Gleiches gilt auch für die Größenordnung des Therapieeffekts: In vielen Anwendungsgebieten gibt es keine „Mindest-Schwelle“, die in den Zulassungsstudien erreicht werden muss. Vielmehr heißt es sogar explizit im Arzneimittelgesetz (AMG): „Die Zulassung darf [...] nicht deshalb versagt werden, weil therapeutische Ergebnisse nur in einer beschränkten Zahl von Fällen erzielt worden sind“ (AMG §25 Abs. 2).

Für konkrete Fragestellung

Die evidenzbasierte Pharmazie nimmt dagegen Nutzen und Risiken unter einer konkreten klinischen Fragestellung in den Blick, oft sogar für einen individuellen Patienten. Da geht es um konkrete Therapieentscheidungen, etwa um die Frage, welches von zwei möglichen Arzneimitteln zu bevorzugen ist oder ob eine Behandlung mit einem bestimmten Mittel tatsächlich mehr Nutzen bringt als „Abwarten und Tee trinken“.

Dabei sind verschiedene Fragen zu klären, etwa wie groß der Therapieeffekt im Hinblick auf patientenrelevante Parameter und im Vergleich zu anderen Alternativen ist. Genauso gilt das auch für die Frage nach den Risiken. Naturgemäß kann die Zulassung diese Fragen nicht für den einzelnen Patienten beantworten, und die Antwort fällt für unterschiedliche Menschen auch sehr unterschiedlich aus. Zur Definition der evidenzbasierten Pharmazie gehört es dagegen, die Wünsche und Vorstellungen des Patienten explizit in die Entscheidungsfindung mit einzubeziehen. 

Alle Daten vs. Bestandsschutz

Im Gegensatz zur Situation bei der Zulassung kann eine Bewertung im Rahmen der evidenzbasierten Pharmazie auch spätere Wirksamkeitsbelege berücksichtigten, nicht nur die Studien, die zum Zeitpunkt der Zulassung vorliegen. Während sich neuere Erkenntnisse zu möglichen Risiken im Rahmen der Pharmakovigilanz in den offiziellen Informationen zu Arzneimitteln niederschlagen, etwa durch entsprechende Änderungen der Fachinformationen, ist das bei veränderten Erkenntnissen zur Wirksamkeit häufig nicht der Fall. 

Grundsätzlich haben zugelassene Arzneimitteln nach dem AMG nämlich erst einmal Bestandsschutz. Wenn sich durch neue Erkenntnisse nicht gravierende Verschiebungen in der Nutzen-Risiko-Bewertung ergeben, ist es in der Praxis sehr schwierig, eine einmal erteilte Zulassung wieder zurück zu nehmen oder zu widerrufen. Das zeigen auch drei aktuelle Beispiele aus dem Bereich von „Arzneimitteln der besonderen Therapierichtungen“.

Kein Risiko - kein Wirksamkeitsnachweis nötig

So hatte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in der Vergangenheit einem Homöopathikum eine Zulassung mit dem Anwendungsgebiet „Unterstützung der Gewichtsabnahme“ erteilt. Der Wirksamkeitsnachweis beruhte auf einer entsprechenden Monografie der Kommission D.

Als die Verlängerung der Zulassung anstand, hatte die Kommission D das Anwendungsgebiet zwischenzeitlich aus der Monografie gestrichen. Entsprechend wollte das BfArM die Zulassung nicht verlängern. Der Hersteller klagte sich durch drei Instanzen und bekam schließlich Recht: Das BfArM musste die Verlängerung genehmigen, da es keine Risiken des Mittels nachweisen konnte – und dann sei auch ein fehlender Wirksamkeitsnachweis kein Argument, wie die Richter urteilten.

Zwei ähnlich gelagerte Fälle beschreibt das BfArM im aktuellen Bulletin für Arzneimittelsicherheit: Der Ausschuss für pflanzliche Arzneimittel bei der Europäischen Arzneimittelagentur EMA hat in zwei Monografien Zubereitungen aus Weißdornblättern mit Blüten sowie solche aus Ginkgo neu bewertet. In beiden Fällen ist die Wirksamkeit für einige Indikationen nicht ausreichend belegt, für die aber in Deutschland zugelassene Fertigarzneimittel auf dem Markt sind. Auch in diesen Fällen hatte sich die ursprüngliche Zulassungsentscheidung auf entsprechende Monografien, diesmal der Kommission E, gestützt. 

„Gewisse Heterogenität des Marktes“

Das BfArM teilt mit, dass es für Neuzulassungen von pflanzlichen Arzneimitteln diese Erkenntnisse natürlich berücksichtigen werde. Zwischen den Zeilen des „Bulletins“ ist zu erkennen, dass das BfArM für bestehende Zulassungen aber wenig Handlungsspielräume sieht. Im Fall von Weißdornpräparaten will das BfArM wohl prüfen, ob sich der Zulassungsstatus mit dem Argument anfechten lässt, dass Herzinsuffizienz keine Indikation für die Selbstmedikation ist und ein Risiko für eine Fehlbehandlung besteht. Im Fall von Ginkgo-Präparaten, die für die Indikationen Tinnitus oder Schwindel zugelassen sind, rechnet sich das BfArM wohl keine Chancen aus. 

Konkret heißt das: Auf dem Markt gibt es Arzneimittel, die für Indikationen zugelassen sind, bei denen die Wirksamkeit nicht ausreichend belegt ist. Von außen ist es nicht zu erkennen, bei welchen Mitteln das der Fall ist. Das macht die Situation sehr unübersichtlich. Hinzu kommt: Für zugelassene Anwendungsgebiete darf der Hersteller werben. Diese Beispiele illustrieren sehr anschaulich, warum es im Einzelfall sogar irreführend sein kann, sich auf den Zulassungsstatus zu verlassen. Umgekehrt heißt das aber auch: Kritisch sein und die Studien selbst ansehen. 



Iris Hinneburg, freie Medizinjournalistin und Pharmazeutin
redaktion@daz.online


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