Valproinsäure

Aufklärung auch in Deutschland gefordert

Paris / Berlin - 30.01.2017, 12:00 Uhr

Valproat kann bei ungeborenen Kindern zu schwerwiegenden Fehlbildungen führen. (Foto: romaset / Fotolia)

Valproat kann bei ungeborenen Kindern zu schwerwiegenden Fehlbildungen führen. (Foto: romaset / Fotolia)


Frankreich will Schwangere entschädigen, weil sie nicht über die Risiken des Epilepsiemittels Valproinsäure aufgeklärt wurden. Die Bundesregierung plant bislang keine Untersuchung der Lage in Deutschland, wie eine Anfrage der Linken ergab. 

Die Bundesregierung plant keine Untersuchung, die die Verschreibungspraxis des Epilepsiemittels Valproinsäure aufklären und möglichen Geschädigten so den Weg zu Entschädigungsforderungen ebnen könnte. Das geht aus einer Antwort hervor, die das Gesundheitsministerium auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der Linkspartei im Bundestag erteilte. Auch einen Entschädigungsfonds, wie ihn die französische Regierung für betroffene Familien eingerichtet hat, wird es nicht geben. „Mögliche Ansprüche gegen die Bundesregierung müssen im Einzelfall geklärt werden‟, heißt es in dem offiziellen Schreiben.

Der Wirkstoff Valproinsäure ist in Deutschland unter anderem unter den Produktnamen Ergenyl, Orfiril und in Form zahlreicher Generika im Handel. In Frankreich wurde bisher am häufigsten das Präparat Depakine von Sanofi verordnet – den Pharmakonzern will man dort auch noch in die Pflicht nehmen. Valproat wird nicht nur bei Epilepsie, sondern auch in der manischen Phase bei bipolaren Störungen eingesetzt. Wenn Mütter es während der Schwangerschaft einnehmen, kann es bei Babys zu schwerwiegenden Missbildungen wie Neuralrohrdefekten, Kiefer-Lippen-Gaumenspalten und Schädigungen des Herzens oder der Nieren kommen. Vor etwa zehn Jahren stellte sich zudem heraus, dass 30 bis 40 Prozent der Kinder aus solchen Schwangerschaften im Vorschulalter unter Entwicklungsstörungen oder einem verminderten Intelligenzquotienten leiden. Das Risiko für Autismus ist bei ihnen fünfmal höher als bei anderen Kindern.

Frankreich entschädigt Schwangere

In Frankreich hatten Untersuchungen ergeben, dass Frauen unzureichend über diese Risiken aufgeklärt worden waren, und hunderte Babys dadurch geschädigt wurden. Das Parlament beschloss daraufhin im vergangenen Jahr, einen Fonds mit zehn Millionen Euro für Entschädigungszahlungen einzurichten.

Viele Mädchen und Frauen bekommen weiter Valproinsäure verordnet

In ihrer Kleinen Anfrage forderte die Linkspartei nun Zahlen dazu an, in welchem Umfang Valproat in Deutschland Mädchen und Frauen im gebärfähigen Alter verordnet wurde und wird. Im Antwortschreiben der Bundesregierung heißt es, ihr lägen „keine eigenen Kenntnisse zu Verordnungen im Hinblick auf Alter und Geschlecht vor.‟

Doch beim Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) lassen sich die Daten erfragen. Diese zeigen: Obwohl eine EU-weite Regelung seit Ende 2014 vorsieht, dass dies nur noch in Ausnahmefällen geschehen soll, wird Valproinsäure in Deutschland offenbar nach wie vor regelmäßig an Frauen im gebärfähigen Alter verschrieben: Die Anzahl der Verschreibungen nahm nach der Neuregelung kaum ab: So gab es im Jahr 2015 noch rund 237.000 Verordnungen an Frauen im gebärfähigen Alter – nur rund 11.000 weniger als noch 2014.

Rechnet man junge Mädchen unter 15 Jahren hinzu, denen Valproat eigentlich auch nicht mehr verschrieben werden soll, waren es sogar rund 278.000 Verordnungen in 2015. Die auf EU-Ebene beschlossene Regelung besagt, dass man Valproinsäure Mädchen und Frauen im gebärfähigen Alter nur dann noch verordnen soll, wenn kein alternatives Mittel für eine Behandlung infrage kommt. Außerdem soll es bei ihnen nur noch zur Behandlung von Epilepsie oder bipolaren Störungen eingesetzt werden.

Zu wenig Aufklärung über Valproinsäure

Falls eine Behandlung unumgänglich erscheint, müssen Patientinnen gründlich über die Gefahren im Fall einer Schwangerschaft aufgeklärt werden. In Frankreich war das zumindest in der Vergangenheit offenbar nicht der Fall. Ungeklärt bleibt, wie deutsche Ärzte mit der EU-weiten Regelung verfahren sind. Und ob sie selbst genug über die Risiken wussten. Daher lässt sich zu diesem Zeitpunkt auch nicht abschätzen, zu wie vielen Schwangerschaften es während der Einnahme kam.

Valproinsäure: Letztes Mittel der Wahl in der Schwangerschaft

Ein Bericht der französischen Aufsichtsbehörde IGAS kommt zu dem Schluss, dass man spätestens ab 2004 Patientinnen auf neue, bedenkliche Erkenntnisse hätte hinweisen müssen. Trotzdem kam es danach in Frankreich noch zu tausenden Schwangerschaften unter der Einnahme der Arznei. Die Gesundheitsbehörden und Hersteller unternahmen nach Einschätzung der IGAS zu wenig, um Aufklärung zu betreiben. Auch auf europäischer Ebene habe es an Reaktionsbereitschaft gemangelt.

Nicht gesichert ist angesichts der Verschreibungszahlen auch, ob deutsche Ärzte weiterhin Valproat in der gefährdeten Gruppe nur noch als Mittel der letzten Wahl verschreiben.

Kathrin Vogler ist gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag, sie hat die Kleine Anfrage mitverfasst. Als Reaktion auf das Antwortschreiben sagte sie, die Bundesregierung versuche, die Bedeutung des Themas in Deutschland herunterzuspielen. Sie forderte umfassend zu untersuchen, wie viele geschädigte Kinder es in Deutschland gibt und ob die Behörden genug getan hätten, um das zu verhindern: „Aufklärung tut dringend Not‟, sagt Vogler.

Hinweis: Ein plötzliches Absetzen von Valproinsäure kann für Mutter wie auch das Kind erhebliche negative Folgewirkungen haben, sodass in jedem Fall eine Umstellung medizinisch engmaschig begleitet werden muss. Für viele Epilepsiepatienten gibt es alternative Arzneimittel. Die Substanz wird auch zur Phasenprophylaxe bei manisch-depressiven Erkrankungen eingesetzt. Für die Psychiatrie hält der Berliner Embryonaltoxikologe Christof Schaefer den Arzneistoff jedoch ohnehin für entbehrlich. 



Irene Habich, Autorin DAZ.online
redaktion@daz.online


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