Molekulare Medizin

Möglicher neuer Wirkstoff gegen neuropathischen Schmerz identifiziert

Berlin - 10.01.2017, 10:10 Uhr

Neuer möglicher Wirkstoff gegen neuropathische Schmerzen identifiziert: per „High-Throughput-Screening“. (Foto: Fotolia)

Neuer möglicher Wirkstoff gegen neuropathische Schmerzen identifiziert: per „High-Throughput-Screening“. (Foto: Fotolia)


Forscher des Berliner Max-Delbrück-Centrums haben in einem breit angelegten Screening einen Wirkstoff gefunden, der gegen neuropathische Schmerzen helfen kann, wie sie bei Nervenverletzungen oder Diabetes vorkommen. In einem Tiermodell gab es vielversprechende Ergebnisse.

Bei der Entwicklung neuer Wirkstoffe steht mit modernen wissenschaftlichen Methoden heutzutage häufig die richtige Fragestellung an erster Stelle. So lässt sich etwa über die Überlegung, wie ein Mittel wirken muss, in einem breitangelegten Screening ein Wirkstoff finden, der den gewünschten Wirkmechanismus hat. „High-Throughput-Screening“ oder zu Deutsch „Hochdurchsatz-Screening“ ist dabei eine Methode, mit der sich weitgehend automatisiert eine Vielzahl an Substanzen auf eine bestimmte Wirkung hin testen lässt.

Diesen Ansatz haben auch Forscher des zum Helmholtz-Verbund gehörenden Berliner Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin verfolgt, die sich auf die Suche nach einem Mittel begeben haben, das neuropathische Schmerzen lindern kann. Im Falle von Nervenverletzungen etwa oder in Folge von Nervenschädigungen, beispielsweise durch Diabetes, wird bereits leichter Druck als Schmerz empfunden. Neuropathische Schmerzen werden bislang mit Antidepressiva, Antikonvulsiva, langwirksamen Opioiden oder lokal mit Lidocain oder hochdosiertem Capsaicin behandelt.

STOML3 moduliert den Mechanismus der Berührungsempfindung

Um einen Wirkstoff zu finden, der selektiv den neuropathischen Schmerz unterdrückt, hat sich die promovierte Medizinerin Christiane Wetzel aus dem Forscherteam von Professor Gary Lewin am Max-Delbrück-Centrum dabei gezielt auf die Suche nach einem Wirkstoff begeben, der das „Stomatin-artige Protein3“ (STOML3) beeinflusst. Wetzel forscht bereits seit über zehn Jahren am Mechanismus der Berührungsempfindung und veröffentlichte ihre Arbeiten über die Rolle von STOML3 in der Maus dabei im Jahr 2007 im Fachmagazin „Nature“.

STOML3 moduliert die Öffnung des Ionenkanals Piezo2 im Nervensystem. Wird dieser aktiviert, entsteht ein elektrisches Signal in der Nervenzelle, das weitergeleitet eine „leichte“ Berührungsempfindung hervorruft. STOML3-Inhibitoren reduzieren die durch Berührungsreize ausgelösten Ionenströme und somit die Empfindlichkeit der sensorischen Neurone. Tübinger Forscher schlugen bereits 2015 STOML3 als möglichen Wirkort für Arzneimittel gegen chronische Schmerzen, Allodynie beziehungsweise Hyperalgesie vor. So zeigen etwa transgene Mäuse, denen das Protein STOML3 fehlt, keine neuropathischen Schmerzen infolge von Nervenverletzungen.

35.000 Substanzen auf Wirksamkeit an STOML3 getestet

In einem automatisierten High-Throughput-Screening testeten die Forscher 35.000 Substanzen daraufhin, ob sie die Oligomerisation, also die Zusammenlagerung von STOML3 beeinflussen konnten. „Die Substanzbibliothek, die für den Screen genutzt wurde, gehört zu einer Substanzkollektion des akademischen Netzwerks ChemBioNet. Fokus dieser Bibliothek ist es, einen möglichst variablen und breiten Strukturrahmen anzubieten“, erklärt Wetzel. Darin finden sich sowohl bereits zugelassene Arzneimittel-Wirkstoffe sowie Komponenten, für die eine biologische Wirkung bereits beschrieben wurde. Außerdem finden sich unter den Substanzen synthetische oder gereinigte Naturprodukte, die aus Pflanzen oder Bakterien isoliert wurden.

Aus 21 Kandidaten blieb letztlich eine Substanz übrig, die die Forscher in einem Tierexperiment an Mäusen auf ihre Wirksamkeit gegen neuropathischen Schmerz testeten. Die Wissenschaftler benannten die Substanz als OB-1, das Akronym steht dabei für „oligomerisation blocker“. „Kollegen am Max-Delbrück-Centrum haben eine Reihe von Verhaltensexperimenten entwickelt, durch die die Mäuse sozusagen mit uns ‚sprechen‘ konnten“, erklärt Lewin. Dazu sei eine kleine Menge der zu testenden Substanzen in die Pfote injiziert worden. Anschließend sei die Pfote leicht berührt worden. „Die Maus bekam eine Belohnung, wenn sie den Berührungsstimulus richtig erkannte“, sagt Lewin.

Wirkstoff interagiert nur mit spezifischen Berührungsrezeptoren

Dabei testeten die Forscher insbesondere auch an zwei Mausmodellen, die zum einen nach Nervenverletzung und zum anderen infolge von Nervenschädigung durch Diabetes Berührungsreize als schmerzhaft empfanden. OB-1 habe dabei einen deutlichen Effekt gezeigt, der zudem reversibel sei. 

„Wir haben damit eine neue Therapiestrategie geschaffen, und zwar aus dem Verständnis der Mechanismen, die Berührungsreize in Schmerzen umwandeln. Soweit wir bisher sagen können, beeinflusst die Substanz nur eine ganz spezielle Art von Rezeptoren, die sowohl mit STOML3-Proteinen als auch mit Piezo2-Kanälen ausgestattet sind“, erklärt Lewin. OB-1 dämpfe die Wahrnehmung von Schmerzreizen dabei so, dass andere, für das Tier wichtige Signale nicht beeinträchtigt würden. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forscher jetzt im Fachmagazin “Nature Neuroscience“.

Weiterentwicklung des Wirkstoffs kann noch lange dauern

Lewin ist zuversichtlich, dass sich der Wirkmechanismus auch auf Menschen übertragen lasse. Allerdings werde die Weiterentwicklung des Wirkstoffes zur medizinischen Behandlung wohl lange dauern. Wenn Studien an menschlichen Probanden allerdings erfolgreich seien, „wäre das ein großer Schritt zur Behandlung einer Nervenerkrankung, welche die Lebensqualität vieler Menschen derzeit sehr stark einschränke“, sagt Lewin.

„Die Substanz OB-1 ist ein Benzofuran“, sagt Wetzel. Konkret handelt es sich um Ethyl-5-[1-methyl-4-nitro-1H-imidazol-5-yl)oxy]-2-phenyl-1-benzofuran-3-carboxylat, eine Substanz, die bislang pharmazeutisch wohl noch nicht genutzt wurde.

Kooperationen mit Pharma-Unternehmen gebe es bislang nicht: „Gegenwärtig kooperieren wir auf der Basis eines angepassten Helmholtz-Validierungsfonds mit dem Lead Discovery Center in Dortmund, um unsere Hits medizinalchemisch zu optimieren und eine sogenannte Lead-Struktur zu entwickeln, die mittelfristig von der Pharmaindustrie aufgenommen und zur Marktreife weiterentwickelt werden soll“, sagt Wetzel.

Quelle: 

Christiane Wetzel et al. (2016): „Small-molecule inhibition of STOML3 oligomerization reverses pathological mechanicla hypersenitivitity“, Nature Neuroscience, doi: 10.1038/nn.4454



Volker Budinger, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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