Geschädigte Probanden in Frankreich

Arzneimittel-Studie im „Blindflug“

Stuttgart - 28.12.2016, 16:40 Uhr

Uniklinik Rennes: Der später verstorbene Proband wurde „im
ernsten Zustand“ eingeliefert – vier weitere leiden ein Jahr später noch an neurologischen Nebenwirkungen. (Foto: dpa)

Uniklinik Rennes: Der später verstorbene Proband wurde „im ernsten Zustand“ eingeliefert – vier weitere leiden ein Jahr später noch an neurologischen Nebenwirkungen. (Foto: dpa)


Vor knapp einem Jahr verstarb ein Proband bei einer Studie mit der Prüfarznei BIA 10-2474 in Frankreich. Vier weitere Teilnehmer haben weiterhin neurologische Symptome, wie jetzt bekannt wurde. Experten kritisieren, dass bei der Studie beispielsweise pharmakologische Daten nicht ausreichend ausgewertet worden seien.

Am 17. Januar 2016 verstarb bei einer klinischen Studie des portugiesischen Hersteller Bial mit dem Prüfmedikament BIA 10-2474 ein Proband, fünf weitere wurden im Krankenhaus behandelt. Wie nun bekannt wurde, haben vier Patienten sich noch nicht von den neurologischen Symptomen erholt. Sie leiden weiterhin unter Gedächtnisverlust, Kopfschmerzen oder motorischen Störungen, wie das Fachmagazin „Nature“ berichtet. Auch zehn Versuchsteilnehmer aus anderen Probandengruppen hätten unter vorübergehenden neurologischen Nebenwirkungen wie Schwindel oder Sehstörungen gelitten.

Bei einer Pressekonferenz hat Bial laut dem Bericht inzwischen eingeräumt, dass Daten zur Pharmakodynamik (PD) des Arzneimittels nicht immer von der vorherigen Probandenkohorte ausgewertet wurden. Warum war dies der Fall? „Die Auswertungen für die Gabe der nächst höheren Dosis basiert auf Auswertungen der Sicherheit sowie auf pharmakokinetischen Daten“, erklärte Helena Gama auf einer Konferenz auf diese Frage – sie ist bei Bial für die Pharmakovigilanz und Arzneimittelsicherheit zuständig. „Wir hatten kein Profil, dass den Weg zur nächsthöheren Dosis verhindert hätte.“

„Blindflug“ von Bial und Biotrial

„Dies war für uns eine Offenbarung“, sagte David Webb, Präsident der „British Pharmacological Society“, laut „Nature. „Ohne die PD-Daten sind sie blind geflogen”, erklärte er. „So passieren Unfälle.“

Allerdings war Bial sowie die durchführende Auftragsforschungsorganisation nicht verpflichtet, die PD-Daten der vorherigen Patientenkohorte auszuwerten, bevor sie zur nächsten übergingen. Auch der von einer Ethikkommission sowie der zuständigen Arzneimittelbehörde akzeptierte Studienplan sah dies nicht vor. Laut der Biostatistikerin Catherine Hill, die auch die französische Arzneimittelbehörde ANSM beriet, sei der Vorgang jedoch „unglaublich“, zitiert „Nature“ sie. „Der ‚Blindflug‘ ist das perfekte Bild.“

„Verrückt“ hohe Dosis, unklares Nutzen-Risiko-Verhältnis

Auch weitere Aspekte des Studiendesigns waren von Experten scharf kritisiert worden – insbesondere die äußerst hohen Dosen, die den Probanden verabreicht wurden, obwohl dies laut Tiermodellen nicht angebracht sei. Der emeritierte französische Neurologe Alain Privat bezeichnete es gegenüber DAZ.online als „verrückt“, dass eine Dosis zwanzigfach über der für eine vollständige Hemmung des Zielenzyms Fettsäureamid-Hydrolase nötigen Dosis verwendet wurde. Laut Joerg Hasford vom Arbeitskreis Medizinischer Ethikkommissionen hat Bial im Studienprotokoll auch keine überzeugenden Daten für ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis vorweisen können.

Ohnehin war unklar, für welche Erkrankung BIA 10-2474 eingesetzt werden soll: Die portugiesische Firma führte Angstzustände, Parkinson, aber auch die Behandlung von chronischen Schmerzen bei multipler Sklerose, Krebs, Bluthochdruck oder die Behandlung von Fettleibigkeit an. 

EMA verschärft die Anforderungen

Außerdem verwendeten Bial und Biotrial ein verschachteltes Studiendesign, das in dieser Form in Deutschland kaum von einer Ethikkommission zugelassen worden wäre, wie Hasford gegenüber DAZ.online erklärt hatte. „So ein Verpacken von vier ganz unterschiedlichen Studien in ein Protokoll, das war mir neu“, kritisierte er.

Nach dem Todesfall in Rennes hat sich die EMA entschlossen, die Anforderungen für frühe Studien am Menschen zu verschärfen. Insbesondere für Protokolle mit mehreren Teilstudien soll es zukünftig klarere Anforderungen geben. Bis Ende Februar können alle Interessierten Änderungsvorschläge für den aktuellen Entwurf der entsprechenden Richtlinie einreichen. 



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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