Pharmaskandal in Frankreich

Wie haben deutsche Ärzte Valproinsäure verschrieben?

Hamburg - 19.12.2016, 13:00 Uhr

Schon lange ist klar, dass es Fruchtschäden geben kann – dennoch erhielten viele Schwangere in Frankreich Valproinsäure. (Foto: Nelly Kovalchuk / Fotolia)

Schon lange ist klar, dass es Fruchtschäden geben kann – dennoch erhielten viele Schwangere in Frankreich Valproinsäure. (Foto: Nelly Kovalchuk / Fotolia)


In Frankreich landete der Fall bereits vor Gericht: Tausende Schwangere wurden mit dem Antiepileptikum Valproinsäure behandelt, obwohl es bei Kindern schwere Missbildungen auslösen kann. Wie konnte es dazu kommen? Und wem haben deutsche Ärzte das Mittel verordnet?

Beim Einsatz des Epilepsiemittels Valproinsäure scheint das System in Frankreich gleich auf mehreren Ebenen versagt zu haben. Nicht nur waren Ärzte schlecht informiert und haben es vielen Schwangeren verschrieben, obwohl das Arzneimittel Fruchtschäden bei Ungeborenen auslösen kann. Auch die Behörden und der Pharma-Hersteller Sanofi stehen in der Kritik, weil sie zu wenig unternahmen, um Mediziner und Patienten besser aufzuklären. Die möglichen Folgen für ungeborene Kinder – schwere Missbildungen wie ein offenes Neuralrohr – waren aus Studien seit den 80er Jahren bekannt. Seit Beginn des Jahrtausends gab es zudem immer mehr belastbare Daten dazu, dass es darüber hinaus später zu Entwicklungsstörungen, Autismus und einer Minderung des Intelligenzquotienten bei solchen Kindern kommen kann.

In einer Analyse der französischen Untersuchungsbehörde IGAS heißt es, spätestens 2004 wäre es angemessen gewesen, Patienten und Ärzte auf die neuen Erkenntnisse hinzuweisen. Sanofi wandte sich tatsächlich bereits 2003 an die französischen Gesundheitsbehörden, um verschärfte Warnhinweise in die Packungsbeilage aufnehmen und die Ärzte über das Publikationsorgan „Vidal‟ informieren zu lassen, wie die französische Zeitung Le Monde berichtete. Geschehen ist dies aber erst 2006.

Hunderte unnötigerweise betroffene Kinder

Und selbst danach gingen die Verschreibungen erst allmählich zurück, bis 2014 die Europäische Arzneimittelbehörde EMA beschloss, dass Valproinsäure bei Mädchen und bei Frauen im gebärfähigen Alter EU-weit nur noch als letztes Mittel eingesetzt werden darf. Laut IGAS-Bericht wurden in Frankreich zwischen 2006 und 2014 noch geschätzte 425 bis 450 Babys durch Valproinsäure geschädigt – oder tot geboren.

Zieht man andere Zahlen hinzu, könnten es auch deutlich mehr gewesen sein. Den letzten Studien zufolge, auf die sich auch die EMA beruft, leiden 30 bis 40 Prozent aller Vorschulkinder, die vor der Geburt Valproat ausgesetzt waren, unter Entwicklungsstörungen. Dazu kommt ein Risiko von 11 Prozent für Missbildungen wie Neuoralrohrdefekten oder Gaumenspalten, während dies ansonsten nur bei rund 3 Prozent aller Kinder der Fall ist. Und die Wahrscheinlichkeit für eine Störung aus dem Autismus-Spektrum ist dreifach erhöht.

Noch vor zehn Jahren erhielten tausende Schwangere das Mittel

Gleichzeitig wurde einem Bericht des französischen Gesundheitsministeriums und der Krankenkassen zufolge von 2007 bis 2014 mehr als 14.000 Schwangeren in Frankreich Valproinsäure verabreicht, von denen 4.300 einen Schwangerschaftsabbruch vornahmen. Inwieweit Fehlbildungen die Ursache waren, wird nicht aufgeführt. Bedenkt man aber, dass im Jahr 2007, als die verstärkten Warnhinweise erst langsam Wirkung zeigten, noch über 2.000 französischen Schwangeren pro Jahr Valproinsäure verschrieben wurde, so kommt man leicht auf mehrere hunderte Geschädigte pro Jahr. Bezogen auf die letzten Jahrzehnten müssen es zigtausende sein.

Aber wie ist die Situation in Deutschland? Laut Arzneimittelreport werden und wurden in Deutschland um die 55 Millionen Tagesdosen Valproinsäure pro Jahr verordnet. Der französische IGAS-Report listet für das Jahr 2014 in Deutschland eine Gesamtzahl 177.000 Verschreibungen auf, weniger als ein Zehntel der Zahl aus Frankreich, von denen noch knapp 15 Prozent an Frauen im gebärfähigen Alter gegangen sein sollen. Waren die Ärzte in Deutschland besser informiert – oder nicht? 

Gereon Nelles ist Neurologe und Mitglied im Vorstand des Berufsverbands Deutscher Nervenärzte (BVDN). Über das, was in Frankreich passiert ist, wundert er sich. Als er sich 2004 mit seiner Praxis niedergelassen habe, sei bereits klar gewesen, dass man Valproinsäure „nur in ganz großen Ausnahmen“ an Frauen im gebärfähigen Alter oder mit Kinderwunsch verordnen dürfe. Er ist sich sicher, dass andere Neurologen, die Epilepsie behandeln, auf dem gleichen Kenntnisstand waren. Weniger verbreitet sei das Wissen vielleicht bei Allgemeinmedizinern gewesen. 

Nicht alle Ärzte waren sich der Probleme bewusst

Ein deutscher Embryonaltoxikologe, der namentlich nicht genannt werden möchte, war allerdings nicht zufrieden mit dem Informationsstand bei Ärzten in Deutschland in den letzten zehn bis 15 Jahren. „Den hätte man noch optimieren können‟, erklärt er. Der Experte hatte auf Fortbildungsveranstaltungen versucht, aufzuklären. Dort musste er merken, dass vor allem unter Psychiatern, die Valproinsäure bei bipolaren Störungen verordnen, nicht immer das Risiko in vollem Umfang bewusst gewesen sei – möglicherweise selbst dem ein oder anderen Neurologen nicht. Und das, obwohl man bei bipolaren Störungen noch problemloser als bei Epilepsie auf Alternativpräparate hätte ausweichen können. 

Er weist zudem auf ein Problem bei Verschreibungen in der Vergangenheit hin. So hätten Ärzte möglicherweise jungen Mädchen die Valproinsäure zur Dauermedikation verschrieben. Diese seien dann nicht immer neu überprüft worden, wenn die Mädchen erwachsen wurden und ins gebärfähige Alter kamen. Die EU-weite Neuregelung sieht daher vor, dass Valproinsäure nicht bloß bei Frauen im gebärfähigen Alter, sondern auch bei Mädchen nur noch als Mittel der letzten Wahl verschrieben werden darf.

Deutsche Behörden haben „keine Erkenntnisse“

Deutlich wird, dass viele Frauen geschädigt wurden, da diese einheitliche Regel so lange auf sich warten ließ. Der Report des IGAS kritisiert diesbezüglich nicht nur das Verhalten bei den Behörden und dem Vermarkter in Frankreich. Auch auf europäischer Ebene habe es „an Reaktionsbereitschaft gemangelt‟.

Dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) liegen keine Erkenntnisse dazu vor, in welchem Umfang Valproinsäure in der Vergangenheit von deutschen Ärzten verschrieben wurde, erklärt es gegenüber DAZ.online. Während es in Frankreich rückwirkende Untersuchungen zum Verschreibungsverhalten der Ärzte gab, die den Weg für einen zunächst mit 10 Millionen Euro ausgestatteten Entschädigungsfonds ebnete, plant das BMG offenbar nichts dergleichen. Man stehe „in engem Austausch mit den Behörden in Frankreich“, heißt es dort, und „beobachte aufmerksam die weitere Entwicklung“.

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BfArM verweist auf die Fachinformation. Daten über Therapieentscheidungen von Medizinern lägen der Behörde nicht vor. „Ob das Arzneimittel verordnet wird, obliegt der Entscheidung des behandelnden Arztes, der das Anwendungsrisiko im Einzelfall abwägen muss“, erklärt ein Sprecher. 

Ein plötzliches Absetzen von Valproinsäure kann für Mutter wie auch das Kind erhebliche negative Folgewirkungen haben, so dass in jedem Fall eine Umstellung medizinisch engmaschig begleitet werden muss. Für viele Epilepsiepatienten gibt es alternative Arzneimittel. Die Substanz wird auch zur Phasenprophylaxe bei manisch-depressiven Erkrankungen eingesetzt. Für die Psychiatrie hält der Berliner Embryonaltoxikologe Christof Schaefer den Arzneistoff jedoch ohnehin für entbehrlich. 



Irene Habich, Autorin DAZ.online
redaktion@daz.online


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