Pharmaskandal in Frankreich

Wie haben deutsche Ärzte Valproinsäure verschrieben?

Hamburg - 19.12.2016, 13:00 Uhr

Schon lange ist klar, dass es Fruchtschäden geben kann – dennoch erhielten viele Schwangere in Frankreich Valproinsäure. (Foto: Nelly Kovalchuk / Fotolia)

Schon lange ist klar, dass es Fruchtschäden geben kann – dennoch erhielten viele Schwangere in Frankreich Valproinsäure. (Foto: Nelly Kovalchuk / Fotolia)


Noch vor zehn Jahren erhielten tausende Schwangere das Mittel

Gleichzeitig wurde einem Bericht des französischen Gesundheitsministeriums und der Krankenkassen zufolge von 2007 bis 2014 mehr als 14.000 Schwangeren in Frankreich Valproinsäure verabreicht, von denen 4.300 einen Schwangerschaftsabbruch vornahmen. Inwieweit Fehlbildungen die Ursache waren, wird nicht aufgeführt. Bedenkt man aber, dass im Jahr 2007, als die verstärkten Warnhinweise erst langsam Wirkung zeigten, noch über 2.000 französischen Schwangeren pro Jahr Valproinsäure verschrieben wurde, so kommt man leicht auf mehrere hunderte Geschädigte pro Jahr. Bezogen auf die letzten Jahrzehnten müssen es zigtausende sein.

Aber wie ist die Situation in Deutschland? Laut Arzneimittelreport werden und wurden in Deutschland um die 55 Millionen Tagesdosen Valproinsäure pro Jahr verordnet. Der französische IGAS-Report listet für das Jahr 2014 in Deutschland eine Gesamtzahl 177.000 Verschreibungen auf, weniger als ein Zehntel der Zahl aus Frankreich, von denen noch knapp 15 Prozent an Frauen im gebärfähigen Alter gegangen sein sollen. Waren die Ärzte in Deutschland besser informiert – oder nicht? 

Gereon Nelles ist Neurologe und Mitglied im Vorstand des Berufsverbands Deutscher Nervenärzte (BVDN). Über das, was in Frankreich passiert ist, wundert er sich. Als er sich 2004 mit seiner Praxis niedergelassen habe, sei bereits klar gewesen, dass man Valproinsäure „nur in ganz großen Ausnahmen“ an Frauen im gebärfähigen Alter oder mit Kinderwunsch verordnen dürfe. Er ist sich sicher, dass andere Neurologen, die Epilepsie behandeln, auf dem gleichen Kenntnisstand waren. Weniger verbreitet sei das Wissen vielleicht bei Allgemeinmedizinern gewesen. 

Nicht alle Ärzte waren sich der Probleme bewusst

Ein deutscher Embryonaltoxikologe, der namentlich nicht genannt werden möchte, war allerdings nicht zufrieden mit dem Informationsstand bei Ärzten in Deutschland in den letzten zehn bis 15 Jahren. „Den hätte man noch optimieren können‟, erklärt er. Der Experte hatte auf Fortbildungsveranstaltungen versucht, aufzuklären. Dort musste er merken, dass vor allem unter Psychiatern, die Valproinsäure bei bipolaren Störungen verordnen, nicht immer das Risiko in vollem Umfang bewusst gewesen sei – möglicherweise selbst dem ein oder anderen Neurologen nicht. Und das, obwohl man bei bipolaren Störungen noch problemloser als bei Epilepsie auf Alternativpräparate hätte ausweichen können. 

Er weist zudem auf ein Problem bei Verschreibungen in der Vergangenheit hin. So hätten Ärzte möglicherweise jungen Mädchen die Valproinsäure zur Dauermedikation verschrieben. Diese seien dann nicht immer neu überprüft worden, wenn die Mädchen erwachsen wurden und ins gebärfähige Alter kamen. Die EU-weite Neuregelung sieht daher vor, dass Valproinsäure nicht bloß bei Frauen im gebärfähigen Alter, sondern auch bei Mädchen nur noch als Mittel der letzten Wahl verschrieben werden darf.



Irene Habich, Autorin DAZ.online
redaktion@daz.online


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