Entschädigungsfonds

Conterganopfer befürchten Entmachtung durch Bundesregierung

Berlin - 30.11.2016, 08:50 Uhr

Contergan: Ein Arzneimittel mit schwerwiegenden Folgen. (Foto: picture alliance / JOKER)

Contergan: Ein Arzneimittel mit schwerwiegenden Folgen. (Foto: picture alliance / JOKER)


Mit einer Gesetzesänderung will die Große Koalition Gelder für Contergangeschädigte leichter auszahlen, andere Pläne stoßen jedoch auf bittere Kritik: Betroffene befürchten eine „Entdemokratisierung“ oder „Entrechtung“. Während die Bundesregierung dies „in keiner Weise“ nachvollziehen kann, setzt sich aus Sicht der Betroffenen der Conterganskandal fort.

Um Eltern und Betroffene des Conterganskandals zu unterstützen, gründete die Bundesrepublik im Jahr 1972 eine Stiftung. Sie erhielt vom Pharmahersteller Grünenthal einen Entschädigungsbetrag von 100 Millionen Deutsche Mark und übernahm im Gegenzug die Haftungsansprüche, welche seitdem von der Bundesrepublik Deutschland zu tragen sind. Nach jahrzehntelangem Kampf stehen Geschädigten zwar seit 2013 deutlich bessere Rentenzahlungen zu, doch fürchten sie nun einen erheblichen Rückschritt: Ihre Stimme innerhalb der Stiftung werde durch eine Gesetzesinitiative von Union und SPD stark beschnitten, erklärten Betroffenenvertreter bei einer Bundestagsanhörung am Anfang dieser Woche.

Eigentlich hat die Gesetzesänderung ein weithin geteiltes Ziel: Unterstützungsleistungen über bis zu 30 Millionen Euro jährlich sollen nach den Plänen der Koalition zukünftig vereinfacht ausgezahlt werden, indem jeder der mehr als 2.000 Betroffenen zumindest pauschale Leistungen erhält. Im vergangenen Jahr wurden von diesem Betrag nur 2,34 Millionen Euro ausgezahlt, während für „Verwaltungskosten“ laut dem zuständigen Bundesfamilienministerium 450.000 Euro anfielen. Doch gleichzeitig schlug die Bundesregierung mit ihrem Gesetzesentwurf auch vor, die Zuständigkeiten innerhalb der Conterganstiftung zu ändern, die über die Verteilung der Mittel wacht.

Alte Übereinkunft würde laut Betroffenen aufgekündigt

Für Christian Stürmer von Contergannetzwerk wird der Stiftungsrat, in dem gewählte Betroffenenvertreter wie er selber sitzen, hiermit „entmachtet“. Während der vom Bundesfamilienministerium ernannte Vorstand der Stiftung für das laufende Geschäft zuständig ist, soll der Stiftungsrat die grundsätzlichen Fragen klären und den Vorstand kontrollieren. Doch dieser erhalte mit der Gesetzesänderung zu weitreichende Vollmachten, sagen Kritiker: Während er nach aktueller Gesetzeslage die „Beschlüsse des Stiftungsrates“ ausführen soll, entfällt dieser Passus – und während bislang die Satzung nur eine Liste die wichtigsten Aufgaben des Stiftungsrates aufzählt, soll diese nach dem Gesetzesvorschlag der Bundesregierung zukünftig abschließend zu verstehen sein.

Den positiven Paradigmenwechsel, den die Politik mit der deutlichen Rentenerhöhung im Jahr 2013 vollzogen habe, sei das Bundesfamilienministerium und die Stiftung noch nicht mitgegangen, sagte Stürmer gegenüber DAZ.online. „Das kann man nicht akzeptieren“, erklärte er – und im Gegenteil: Der Vereinbarung zwischen Politik und betroffenen Eltern von Anfang der Siebzigerjahre Geborenen würde durch die aktuellen Pläne „der Boden entzogen“. „Indem der Stiftungsrat entmachtet wird, wäre allein der Vorstand zuständig“, betont Stürmer. Und da auch nur zwei der aktuell fünf Stiftungsratsmitglieder gewählte Betroffene seien – die restlichen drei sind Ministerialbeamte – hätten die Betroffenenvertreter aufgrund der strukturellen Ungleichheit „keine Chance“, berechtigte Anliegen durchzusetzen. 

Entdemokratisierung und Willkürherrschaft statt Beteiligung der Betroffenen?

Bei der Bundestagsanhörung erklärte auch Stiftungsratsmitglied Andreas Meyer vom „Bund Contergangeschädigter und Grünenthalopfer“, die Pläne der Regierung seien eine „Entdemokratisierung und massive Beschneidung“. Sie verpasse die Möglichkeit zur „Weiterentwicklung der demokratischen Strukturen der Stiftung bis hin zu einer Selbstverwaltung durch die Contergangeschädigten“, wie er in seiner Stellungnahme betonte – in welcher er das Haus von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) mehrfach hart anging. „Der Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU und SPD manifestiert die bisherige rechtswidrige Willkürherrschaft des Bundesfamilienministeriums“, erklärte Meyer.

Laut Ministerium gibt es keine Kompetenzbeschneidungen

Aus Sicht des Ministeriums sind derartige Vorwürfe haltlos. „Die Änderung des Conterganstiftungsgesetzes lässt die Struktur der Stiftung … unverändert“, erklärte eine Sprecherin gegenüber DAZ.online und meint damit offenbar das Fortbestehen von Vorstand und Stiftungsrat. „Im Änderungsgesetz wird künftig aufgezählt, welche Zuständigkeit der Stiftungsrat genau hat – entsprechend der Formulierungen, wie sie seit vielen Jahren in der Satzung der Stiftung aufgeführt sind“, erklärt eine Sprecherin. „Hiermit erreichen wir nun auch eine rechtliche Klarstellung.“ Und weiter: „Die Kompetenzen des Stiftungsrates werden auch durch das Gesetz in keiner Weise beschnitten, sondern er entscheidet nach dem vorliegenden Gesetzentwurf über alle grundsätzlichen Fragen und überwacht die Tätigkeit des Vorstands.“

Die vom Bundestag geladene Gerontologin Christina Ding-Greiner von der Uni Heidelberg, die sich intensiv mit der Situation von Contergangeschädigten beschäftigt hat, teilt hingegen eher die Einschätzung der Betroffenen. „Die im Gesetzesentwurf vorgeschlagenen Strukturänderungen geben Anlass zur Sorge“, erklärte sie bei der Anhörung. „Es geht unseres Erachtens um eine Verschiebung von Kompetenzen im Sinne einer Einschränkung der Kompetenzen der Betroffenen.“ Doch sei es sinnvoll, sie einzubeziehen und ihre Ressourcen zu nutzen. „Nach über 50 Jahren sollten den Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt werden, sich an Entscheidungen, die ihre Zukunft betreffen, zu beteiligen, sie aktiv mitzugestalten in einem gemeinsamen Prozess, wie dies in einer modernen Demokratie selbstverständlich ist“.

„Weitgehende Aufgabe des Minderheitenschutzes“ 

Auch für den gleichfalls als Experten geladenen Rechtsanwalt Oliver Tolmein zeige sich, „dass die Betroffenen keine unangemessenen, unvertretbaren Forderungen stellen — weder was konkrete Leistungsansprüche angeht, noch was ihre Position innerhalb der Stiftung betrifft“, wie er in seiner Stellungnahme erklärte. Handlungsmöglichkeiten der Leistungsberechtigten würden „strukturell geschwächt“, auch drohe eine „weitgehende Aufgabe des Minderheitenschutzes“ der Betroffenen im Stiftungsrat.

Vorstand ruhte, Informationen stockten

Laut Tolmein seien auch die zur Verfügung gestellten Mittel nicht in angemessener Weise verwaltet und verteilt worden. „Eine vom Gesetzgeber großzügig konzipierte ausgestattete Erweiterung der Leistungen für die geschädigten Betroffenen, führte im Ergebnis zu einem Vertrauensverlust bei zumindest einem erheblichen Teil der Betroffenen“, erklärte er. Die Stiftung habe versucht, alle Regularien streng auszulegen, sodass der Großteil der Mittel nicht ausgegeben wurde und „viele Leistungsberechtigte die Stiftung als Gegnerin wahrnahmen“ – auch vor Gericht.

Innerhalb der Stiftung scheint es ohnehin schwer zu knirschen: Im vergangenen Jahr trat ein Vorstandsmitglied nach nur drei Monaten Tätigkeit wieder zurück – nachdem die Tätigkeit zuvor laut Ministerium drei Monate „ruhen gelassen“ wurde, obwohl derartiges nicht vorgesehen ist. Laut Stiftungsratsmitglied Meyer seien wichtige Informationen erst über ein Gerichtsverfahren an die Öffentlichkeit gekommen, während personenbezogene Daten von Betroffenen über ungesicherte E-Mails verschickt worden seien.

Einmischung durch das Ministerium

Margit Hudelmaier, die früher als Betroffene im Stiftungsrat saß und inzwischen vom Bundesfamilienministerium in den Vorstand berufen wurde, freute sich bei der Anhörung zwar über die Klarstellung der Kompetenzen des Vorstands. Doch auch sie habe als Vorstandsmitglied erfahren müssen, „dass sich das aufsichtsführende Ministerium zunehmend in einer Weise und Intensität einmischt, die es zu Zeiten meiner Stiftungsratsmitgliedschaft nicht gegeben hat“, wie sie schriftlich erklärte.

Das geplante „Vierte Gesetz zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes“ wird nun im nächsten Schritt vom Familienausschuss des Bundestags verhandelt. Abzuwarten bleibt, ob er den Empfehlungen vieler Betroffenen und Experten folgt und einen radikalen Schnitt macht, indem er die geplanten Erleichterungen der Leistungsauszahlung befürwortet – aber die Änderungen an der Tektonik innerhalb der Stiftung zunächst belässt. 



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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