Einsatz von Apotheker ohne Grenzen

Die Lage in Haiti ist weiterhin katastrophal

Les Cayes/München - 23.11.2016, 09:45 Uhr


Seit bald sechs Wochen ist Apotheker ohne Grenzen im Einsatz in Haiti. Die Münchener Apothekerin Barbara Weinmüller kam kürzlich zurück – und zeigt sich schockiert über die Situation vor Ort wie auch über die mangelnde Aufmerksamkeit für die Lage in Deutschland.

Haiti ist acht Wochen nach dem verheerenden Hurrikan „Matthew“ weiterhin in einer desolaten Lage. Apotheker ohne Grenzen (AoG) entschloss sich schnell zu einem Hilfseinsatz und ist inzwischen mit dem dritten Team vor Ort. In der Einsatzregion im Südlichen Department des Landes sind mehr als 140.000 Menschen weiter auf medizinische Hilfe angewiesen, berichtet die Apothekerin Barabara Weinmüller. Die 63-jährige Pharmazeutin engagiert sich neben ihrer Arbeit in der Apotheke am Bahnhof in Unterhaching bei München seit zwei Jahren bei AoG.

Die Zerstörungen durch den Hurrikan seien für sie schockierend gewesen, sagt sie gegenüber DAZ.online. Nicht nur der Sturm habe das Land zerstört, sondern auch große Wassermassen die Küstenregionen, als der Hurrikan auf das Festland traf. Am Samstag kam sie wieder in Deutschland an. „Das ist ein Kulturschock, wenn man zurückkommt und sieht, in welchem Wohlstand wir leben“ erklärt Weinmüller. Auch viele Kleinigkeiten, über die manche Kunden sich in der Apotheke beschweren, relativieren sich durch die Eindrücke aus Haiti natürlich. Sie halte weiter Kontakt zu den haitianischen Ärzten und Pflegern, mit denen sie zusammen in der „mobilen Klinik“ unterwegs war.  

Bericht von Barbara Weinmüller über den Noteinsatz

Die Brücke hat Hurrikan Matthew weggerissen. Wir stehen mit den Allrad-Fahrzeugen der mobilen Klinik, an der wir als Apothekerinnen angegliedert sind, vor einem breiten Fluss. An beiden Ufern liegen Trümmerteile der einstigen Betonbrücke, Baumstämme und angeschwemmtes Gestrüpp. Das Wasser ist zu tief zum Durchqueren. Zeitraubend mühsam suchen wir einen anderen Weg. Wir wissen, dass im Dorf Dori bereits viele Kranke auf uns warten.

Auf der Suche nach einer flachen Furt kommen wir durch einen Weiler. Aus einer der Hütten wird gerade eine Leiche getragen. Wir halten sofort an, um zu helfen. Doch die Hilfe kommt zu spät: Höchstwahrscheinlich Cholera vermuten die Ärzte, als sie die ca. Vierzigjährige untersuchen. Cholera auch hier. Niemand hat damit gerechnet. Noch ein roter Punkt auf der Karte, wo es vor roten Punkten nur so wimmelt. Jeder rote Punkt steht für noch nicht versorgte Dörfer. Zusätzlich der Eintrag „Cholera!“. 

Über 140.000 Menschen warten im Südwesten Haitis seit sechs Wochen noch immer auf Hilfe: Sauberes Wasser, Medikamente und Nahrungsmittel. 140.000 Einzel-Schicksale. In großer Not.

Und bei uns berichtet niemand mehr darüber. Ich fasse es nicht. Beim Erdbeben waren genug Hilfsorganisationen vor Ort. Jetzt, hier, fehlen sie. Warum? Das kann mir niemand erklären.

Das einstmals grüne Land ist verwüstet

Überall zerlumpte Menschen in erbärmlichem Zustand am Wegesrand. Ich mag sie gar nicht fotografieren. Das kommt mir so voyeuristisch vor. Mit Schaufeln und den bloßen Händen versuchen sie, die angeschwemmten Bäume, Steine und den Müll von ihren kleinen Äckern zu räumen. Ihren Hütten fehlen die Seitenwände oder das Dach. Das einstmals grüne Land sieht aus, als hätte das Kind eines Riesenmatsch und Dreck in gewaltigen Haufen darüber verteilt.

In Dori angekommen, schlagen wir unsere „Klinik“ und „Apotheke“ in der Dorfschule auf – auch hier ist das Dach zum Teil weggeflogen. 50 Patienten sitzen hier schon seit Stunden geduldig wartend. Kaum wird unsere Ankunft bekannt, strömen die Menschen aus allen Richtungen auf uns zu: Mütter, selbst krank mit ihren verletzten Kindern auf dem Arm und an der Hand, alte Leute gestützt auf einfache Holzstecken humpeln zu uns. Viele barfuß. Hinsehen tut weh. Für die Behandlung haben sie ihre Sonntagskleider herausgesucht. Da erst fällt mir auf: Es ist auch Sonntag.

Ein leises, dankbares „Merci“.

Eine tiefe Verbeugung.

So viel Dankbarkeit, Würde und Geduld habe ich nach den Berichten über aggressive Überfälle nicht erwartet. Ich bin zutiefst gerührt.

Mit Gesängen versuchen die Haitianer, sich gegenseitig zu stützen und ihre traurige Lage irgendwie etwas aufzuhellen. Die Gesänge treffen mich ins Mark.

Genauso wie die Auskunft des Arztes auf meine Frage, wann wir denn wieder zur Kontrolle vorbeikommen: „Gar nicht, Barbara. Mehr können wir im Moment nicht tun. Du weißt, dass noch viele Menschen auf uns warten…“

Sechs Teams fahren täglich von Les Cayes aus über die Dörfer – in der Hauptsache haitianische Ärzte und Krankenschwestern, mit Verständigung in der Muttersprache geht die Hilfe schneller vonstatten. 200 bis 250 Menschen können pro Tag versorgt werden. Die Hin- und Rückfahrten über die zerstörten Straßen rauben unendlich viel Zeit. Und abends packen wir neue Medikamente in die Koffer für den nächsten Tag.

AoG bittet um Spenden auf das folgende Konto:

Spendenkonto: 0005077591 
Bank: Deutsche Apotheker- und Ärztebank 
BLZ: 300 606 01
IBAN: DE 88 3006 0601 0005 0775 91
BIC (Swiftcode): DAAEDEDDXXX



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