Ludwig Veltmann, Mittelstandsverbund

„Die soziale Funktion der Apotheken ist nicht hoch genug einzuschätzen“

Berlin - 15.11.2016, 15:50 Uhr

Er befürchtet unvorhersehbare, existenzbedrohende Folgen: Der Hauptgeschäftsführer des Mittelstandsverbunds, Ludwig Veltmann. (Foto: Verband)

Er befürchtet unvorhersehbare, existenzbedrohende Folgen: Der Hauptgeschäftsführer des Mittelstandsverbunds, Ludwig Veltmann. (Foto: Verband)


Immer mehr Verbände folgen dem Aufruf der ABDA und positionieren sich gegen eine Lockerung der Arzneimittelpreisbindung in Deutschland, wie sie das EuGH-Urteil bewirken könnte. Sie fürchten ähnliche Entwicklungen in anderen Sparten – und unterstützen die ABDA. So nun auch der Mittelstandsverbund, der 230.000 Unternehmen vertritt.

Das Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu Rx-Boni sorgt nicht nur unter Apothekern für Aufregung: Auch Angehörige anderer Freier Berufe fürchten zukünftige Liberalisierungen. Die ABDA hatte daher den Schulterschluss mit Vertretern von Ärzten und Buchhändlern gesucht, um gemeinsam für den Erhalt der Preisbindungen einzustehen. Die Apotheker-Spitze hatte auch angekündigt, die Kooperation mit den Verbänden anderer freier Berufe zu suchen. Die Strategie fruchtete sofort: Gemeinsam mit der Apothekerkammer und dem Apothekerverband Sachsen-Anhalt hatten die dortigen Ärzteverbände und Kassenärztlichen Vereinigungen Protest gegen die Liberalisierung eingelegt – wie auch der Verband Freier Berufe in Nordrhein-Westfalen.    

Die Apothekenvertreter erhalten nun weitere Unterstützung: Laut Mittelstandsverbund, der bis vor einigen Jahren als „Zentralverband Gewerblicher Verbundgruppen“ firmierte und rund 230.000 mittelständische Unternehmen vertritt, steht die EuGH-Entscheidung Kundeninteressen „diametral“ gegenüber. Das Urteil „wurde von Anhängern der Marktliberalisierung bejubelt“, erklärt der Verbund, zu dem auch Apothekenkooperationen wie Noweda oder Avie gehören – und warnt vor einer Wettbewerbsverzerrung.

Rahmenbedingungen müssen fair sein

„Die Freiheit des grenzübergreifenden Warenverkehrs ist zentrale Grundlage für Wachstum und Wohlstand“, sagt Ludwig Veltmann, Hauptgeschäftsführer des Mittelstandsverbundes, zu dem auch EDEKA, REWE oder hagebau gehören. „Allerdings müssen die Rahmenbedingungen für alle Marktteilnehmer auch fair und nicht verzerrt sein“, betont Veltmann in einer Presseerklärung.

Nach seiner Ansicht springen sowohl das Urteil des EuGH als auch die in den Medien zu verfolgenden Bewertungen „im Tenor zu kurz“, erklärt er. „Tatsächlich hat man nämlich den Eindruck, dass sich sowohl die EuGH-Richter als auch die Medien-Kommentare über entscheidende Nuancen des deutschen Marktes hinwegsetzen“, sagt Veltmann. So unterlägen deutsche Präsenz-Apotheken gesetzlich dem Kontrahierungszwang, ausländische Versandapotheken aber de facto nicht.

„Gerade bei aufwandsträchtigen und ökonomisch für den Apotheker wenig bis gar nicht rentablen Rezepturen oder dem Verkauf dokumentationspflichtiger Betäubungsmittel sind ausländische Versandapotheken außen vor, von Gesetzes wegen“, betont der Hauptgeschäftsführer. „Vielmehr wäre Ihnen die Möglichkeit zum ‚Rosinenpicken‘ eröffnet“, kritisiert er. Boni ausländischer Versender als auch nach einer weiteren Liberalisierung möglicherweise deutscher Apotheker führten zu einer „gesundheitspolitischen Kuriosität“, wie Veltmann sagt. „Der Patient selbst erhält nämlich einen Bonus für den Bezug eines Arzneimittels, das die Krankenkasse bezahlt.“

Nur Vor-Ort-Apotheken leisten Gemeinwohlaufgaben

Ausländische Versandhandelsapotheken beteiligten sich weder an der aktiven Beratung und Betreuung der Patienten noch an der lebenswichtigen Notfallversorgung durch Nacht- und Notdienste vor Ort, betont Veltmann. „Die Gemeinwohlaufgaben leisten nur die inhabergeführten Präsenz-Apotheken in Deutschland“, erklärt er. Über die fundamentale Aufgabe der Arzneimittelversorgung hinaus bieten diese Dienstleistungen vor Ort in der unmittelbaren Umgebung der Patienten. „Sie sind zudem erste Anlaufstellen für alte, kranke und schwache Menschen“, betont der Geschäftsführer. „Die soziale Funktion, die Apotheken für ihr Umfeld damit wahrnehmen, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.“

Der Mittelstandsverbund macht sogar darauf aufmerksam, dass Versandapotheken sich bei der Abgabe von Arzneimitteln an ihre Patienten nicht an die Vorgaben der GDP-Leitlinien zum sicheren Transport von Medikamenten halten. „Und dies erstaunlicherweise obwohl diese Arzneimittel auf dem Postweg tagelang den unterschiedlichsten Temperaturbedingungen ausgesetzt seien“, erklärte Veltmann. In Präsenz-Apotheken könnten sich Patienten hingegen sicher sein, dass der Transport sicher erfolgt sei.

Unabsehbare, existenzbedrohende Folgen

Die Verlagerung von wichtigen Umsätzen aus Vor-Ort-Apotheken in den Versandhandel schwäche stationäre Apotheken erheblich und sei „in vielen Fällen sogar existenzbedrohend“, erklärt der Verband. Insbesondere im ländlichen Raum könne sich dies verheerend auf eine schnelle, wohnortnahe Arzneimittelversorgung auswirken. „Bei ungehindertem Lauf der Dinge werden die Folgen für die Standorte unabsehbar sein für das heute gut funktionierende System der flächendeckenden Arzneimittelversorgung rund um die Uhr“, erklärt Veltmann. Die bewährte Nacht- und Notfallversorgung müsse weiterhin sichergestellt sein. „Ohne kluge Marktregeln wird der hohe Standard im Gesundheitswesen nicht zu halten sein“, betonte er.

Nach Einschätzung von Veltmann scheuen Apotheken nicht den Wettbewerb mit Versandapotheken, sie würden aber einen Wettbewerb zu ungleichen Bedingungen ablehnen. „Hätte der EuGH entschieden, dass ausländische Versandapotheken keinen Bonus gewähren dürfen, wäre seitens der Apotheken die aktuell vehement aufgestellte Forderung nach einem Versandhandelsverbot garantiert nicht aufgekommen“, erklärt er. „Da aber das Urteil im Raum steht, ist ein Versandhandelsverbot das einzig verbleibende Instrument gegen die faktisch enorme Wettbewerbsverzerrung.“ Deshalb unterstütze sein Verband ein solches Verbot ausdrücklich. 

ABDA erhält weitere Rückendeckung von Verbänden freier Berufe

So erklärt der Landesverband der Freien Berufe Sachsen-Anhalt, er habe „mit Sorge“ die Entscheidung des EuGH zur Kenntnis genommen. „Das Urteil gefährdet nicht nur die flächendeckende Arzneimittelversorgung der Bevölkerung, sondern stellt das grundsätzliche Recht der Mitgliedstaaten nach eigenständiger Ausgestaltung des Gesundheitssystems sowie das deutsche Modell der Freiberuflichkeit mit festen Gebühren- und Honorarordnungen infrage“, erklärt der Verband. Diese wehrten sich gegen Entscheidungen, „die freiberufliches Handeln und auf den Schutz der Bevölkerung gerichtete Regularien in Deutschland angreifen“, heißt es.

Die möglichen Konsequenzen seien weder hinnehmbar, noch in ihrer vollen Tragweite derzeit überhaupt absehbar. „Deshalb unterstützen die Freien Berufe in Sachsen-Anhalt die berechtigte Forderung der Apotheker, die wohnortnahe Arzneimittelversorgung sowie Arzneimittelsicherheit und Verbraucherschutz u.a. durch das Festpreissystem bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln aufrechtzuerhalten“, betont der Verband. Er fordere den Landtag und die Landesregierung von Sachsen-Anhalt auf, sich den bereits bestehenden Initiativen einzelner Bundesländer und der Initiative Gröhes für ein Rx-Versandverbot anzuschließen. So könne die freiberufliche, für jeden Menschen gleichberechtigt verfügbare Arzneimittelversorgung weiterhin flächendeckend als unverzichtbare Gemeinwohlaufgabe sichergestellt werden.

EuGH setzt sich über Recht der Mitgliedstaaten hinweg

Auch der Verband Freier Berufe in Bayern kritisiert das EuGH-Urteil scharf. „Der EuGH setzt sich damit über das Recht der Mitgliedstaaten hinweg, eigenständige Regelungen zur Organisation des nationalen Gesundheitswesens treffen zu können“, erklärt er in einer Stellungnahme. „Damit wird Deutschland die Gestaltungshoheit über einen wichtigen Bestandteil des nationalen Gesundheitssystems entzogen“, wodurch auch „die Honorarordnung eines freien Berufes in ihrem Bestand gefährdet ist.“

Der Verband spricht sich daher dafür aus, den Versand von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, wie in drei Viertel aller EU-Mitgliedstaaten, zu verbieten. Die Arzneimittelpreisbindung sei Teil einer freiberuflichen Honorarbildung, mit welcher die Interessen von Bürgern, Kostenträgern und Apotheken ausgeglichen werden. „So können Bürger vor einer Übervorteilung geschützt werden“, erklärt der Verband.

Vorratshaltung, Lieferfähigkeit, Rezepturen und Beratung

Boni, wie sie von DocMorris beim EuGH durchgesetzt wurden, verursachen nach Ansicht des Verbands Freier Berufe in Bayern „lediglich Fehlanreize zulasten der Solidargemeinschaft“. Die Preisbindung ermögliche hingegen eine Reihe von Gemeinwohlleistungen, die in Apotheken vor Ort erbracht werden. „Zu den Gemeinwohlleistungen zählen eine ausreichende Vorratshaltung und schnelle Lieferfähigkeit, individuelle Rezepturherstellung und persönliche Beratung sowie der Nacht- und Notdienst“, erklärt der Verband. Die Arzneimittelpreisbindung verhindere außerdem eine Rosinenpickerei nach rentablen Patienten und schützt so vor einer lückenhaften Versorgung.

Politische Initiativen, einen Versandhandel von rezeptpflichtigen Arzneimitteln in Deutschland komplett zu verbieten, wie sie die bayerische Gesundheitsministerin Melanie Huml und der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe verfolgen, begrüßt der Verband Freier Berufe „ausdrücklich“.



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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