Genanalysen

Forscher rekonstruieren Ausbreitung von HIV in den USA 

Tucson/Cambridge/Ulm - 27.10.2016, 07:05 Uhr

Eine neue Studie zeigt auf, wie das HI-Virus sich in den USA ausgebreitet hat. (Foto: Ezume Images / Fotolia)

Eine neue Studie zeigt auf, wie das HI-Virus sich in den USA ausgebreitet hat. (Foto: Ezume Images / Fotolia)


HIV kursierte schon Jahrzehnte unter Menschen, aber ab der Ankunft in den USA verbreitete sich das Virus schlagartig. Diese Phase haben Forscher per Genom-Analysen rekonstruiert. Die Studie entlastet den Flugbegleiter, der als Startpunkt der Epidemie in den USA galt.

Das HI-Virus ist von der Karibik um 1970 nach New York gekommen und hat sich von dort rapide in den USA verbreitet. Aus Genomschnipseln aus Ende der 1970er-Jahre genommenen Blutproben hat ein internationales Forscherteam die frühe Ausbreitung des Aids-Erregers in den USA rekonstruiert. Die Studie des Teams um Michael Worobey von der University of Arizona in Tucson liefert eine späte öffentliche Rehabilitierung des Flugbegleiters Gaétan Dugas, der aufgrund eines Missverständnisses als „Patient Zero“ bekannt wurde - ausgerechnet wegen seiner ausgiebigen Kooperation mit den Gesundheitsbehörden.

Die Ankunft von HIV in den USA war nach Angaben der Autoren der Wendepunkt in der Geschichte der Epidemie, die bereits ein halbes Jahrhundert früher in Afrika begonnen hatte. Aber wie und wann der Erreger in die USA gelangte und sich dort ausbreitete, war bislang weitgehend unklar. Bei der Klärung dieser Frage half nun die Untersuchung von mehr als 2000 Blutproben, die Ende der 1970er-Jahre im Rahmen von Hepatitis-B-Studien in New York und San Francisco genommen worden waren. Spender waren Männer, die Sexualkontakte mit Männern hatten.

Rekonstruktion des frühen HIV-Erregers

Die Analysen ergaben zunächst, dass schon damals – also 1978 bis 1979 – in New York 6,6 Prozent und in San Francisco 3,7 Prozent der Proben Antikörper gegen die HIV-Variante (Subtyp B der HIV-1 Gruppe M), die heute weit verbreitet ist, enthielten. Aus insgesamt acht dieser Proben rekonstruierten die Forscher dann das Erbgut der damaligen HIV-Erreger. Deren Analyse ergab, dass sie wahrscheinlich von Virusvarianten in der Karibik abstammten. Schon vorher war vermutet worden, dass das Virus von Afrika aus über Haiti in die USA gelangte. Die neue Studie erhärtet diesen Verdacht.

Anhand der Mutationsraten berechneten die Forscher, dass ein Vorläufer des Virustyps um 1967 (1963 bis 1970) in der Karibik zirkulierte. Demnach erreichte HIV die USA etwa 1971 (1969 bis 1973). Dort verdoppelte sich die Zahl der Infizierten den Berechnungen zufolge anfangs etwa alle zehn Monate. Etwa 1976 erreichte das Virus demnach San Francisco. Um 1977 hatte die Zahl der Infizierten in den USA die in der Karibik, wo HIV deutlich früher ankam, bereits überholt. Erstmals beschrieben wurde die Immunschwächekrankheit Aids 1981 in den USA, zwei Jahre später wurde HIV als Ursache identifiziert.

Schnelle Ausbreitung

„In New York City traf das Virus auf eine Population, die wie trockener Zunder wirkte“, wird Worobey in einer Mitteilung seiner Universität zitiert. „Das sorgte dafür, dass die Epidemie heißer und schneller brannte und dass so viele Menschen infiziert wurden, dass die Welt zum ersten Mal darauf aufmerksam wurde.“

Zudem rehabilitiert die Studie den 1984 gestorbenen kanadischen Flugbegleiter Gaétan Dugas, der jahrzehntelang als „Patient Zero“ galt – also als erster Patient, der das Virus in den USA verbreitete. Die Rekonstruktion des bei ihm gefundenen HIV-Genoms zeigt, dass er nicht zu den ersten Infizierten gehörte.

Der Patient wurde zu Unrecht dämonisiert

„Gaétan Dugas ist einer der am meisten dämonisierten Patienten der Geschichte und einer aus einer langen Reihe von Menschen und Gruppen, die aus dem Glauben heraus verleumdet wurden, dass sie die Epidemie in böser Absicht irgendwie befeuert hätten“, sagt Ko-Autor Richard McKay von der University of Cambridge.

Stattdessen beruht die frühere Darstellung auf einem Missverständnis: Nach Bekanntwerden von Aids untersuchten Mitarbeiter der US-Behörde CDC auf der Suche nach der Herkunft eine Gruppe homosexueller Männer. Im Zentrum dieses Netzwerks stand der Flugbegleiter – auch weil er den Behörden half und Auskunft über seine vielen Sexualkontakte gab. „Die Tatsache, dass Dugas die meisten Namen beisteuerte und selbst einen einprägsamen Namen hatte, trug vermutlich dazu bei, dass er als zentral in diesem sexuellen Netzwerk galt“, erläutert der Historiker McKay.

Die Behörde listete ihn als Nummer 057, aber auch als Patient O, wobei der Großbuchstabe für das Wort „Outside“ stand, weil Dugas nicht aus Kalifornien kam. Später wurde aus dem Buchstaben O versehentlich die Ziffer 0. Verbreitet wurde diese Darstellung dann durch ein 1987 veröffentlichtes Buch des Journalisten Randy Shilts, das in etliche Sprachen übersetzt und sogar verfilmt wurde („AIDS. And the band played on. Die Geschichte eines großen Versagens“).

Weiterhin gibt es viele Unbekannte

„Das ist die bislang detaillierteste Studie zur frühen Ausbreitung von HIV in Nordamerika“, sagt Frank Kirchhoff von der Universitätsklinik Ulm, der nicht an der Arbeit beteiligt war. Die Analyse zeige, wie schnell sich das Virus dort verbreitet habe, sagt der Molekularvirologe. Letztlich gebe es aber noch viele Lücken und Unsicherheiten bezüglich des genauen Ursprungs von HIV und der Dynamik der anfänglichen Ausbreitung.

Die Geschichte des HI-Virus vor seiner Ankunft in Nordamerika hatten Forscher schon früher rekonstruiert: Demnach wurden Varianten des SI-Virus (Simian Immunodeficiency Virus), der bei Affen vorkommenden Form, vermutlich im frühen 20. Jahrhundert mehrmals auf Menschen übertragen. Die weltweit verbreitetste Variante des Virus – HIV-1 M – entstand demnach wahrscheinlich um das Jahr 1920 in Kinshasa und breitete sich in den ersten Jahrzehnten nur langsam im Kongobecken aus. Erst ab den 1960er-Jahren gelangte der Erreger vom westlichen Zentralafrika in die Karibik und von dort dann nach Nordamerika.



dpa / DAZ.online
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