Lagerung für Reaktorunglücke

Wer bezahlt die Jodtabletten?

Düsseldorf - 11.10.2016, 09:30 Uhr

Im Umkreis der acht noch im Betrieb befindlichen AKW sind Tabletten vorhanden. (Foto: Christian Schwier / Fotolia)

Im Umkreis der acht noch im Betrieb befindlichen AKW sind Tabletten vorhanden. (Foto: Christian Schwier / Fotolia)


Wenn im November die Innenminister der Länder in Saarbrücken zusammentreffen, steht auch die Frage auf der Tagesordnung, wer für die hochdosierten Jodtabletten aufkommt, die im Falle einer nuklearen Katastrophe an die Bevölkerung verteilt werden sollen. Laut neuen Richtlinien nach dem Fukushima-GAU werden deutlich mehr Tabletten benötigt.

Wenn es um Radioaktivität geht, spielen oft sehr lange Zeiträume eine Rolle – Uran zum Beispiel hat eine Halbwertszeit von 4,5 Milliarden Jahren. Aber auch Vorschriften und Gesetze zum Schutz der Bevölkerung vor Strahlung können langwierige Folgen haben – und das besonders, wenn es um die Frage geht, wer für Schutzmaßnahmen bezahlt. Im Fall der Verteilung von hochdosierten Jodtabletten zur Jodblockade im nuklearen Katastrophenfall diskutieren so etwa im November die Innenminister der Länder auf ihrem Treffen in Saarbrücken unter anderem über die Finanzierung dieser Maßnahme – eine Folge der beiden großen Reaktorkatastrophen der Menschheitsgeschichte.

Seit Tschernobyl gibt es Empfehlungen für den Katastrophenfall

Dass die Namen Tschernobyl und Fukushima für die beiden bislang einzigen „Größten Anzunehmenden Unfälle“, kurz GAU, stehen, weiß nahezu jeder. Die beiden Reaktorkatastrophen am 26. April 1986 und am 11. März 2011 hatten aber auch Folgen für den Katastrophenschutz weltweit, auch in Deutschland. Nach Tschernobyl wurden überhaupt erstmals „Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen“ erarbeitet. Die Erfahrungen aus Fukushima zeigten den Experten dann, dass es dabei Überarbeitungsbedarf gab. In der Folge gab im Februar 2014 die Strahlenschutzkommission (SSK) als Beratungsgremium des Bundesumweltministeriums (BMUB, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit) eine Empfehlung zu den „Planungsgebieten für den Notfallschutz in der Umgebung von Kernkraftwerken“ und ergänzte 2015 auch die Rahmenempfehlungen.

Dort heißt es nun etwa: „Das bestehende Konzept zur Bevorratung und Verteilung von Jodtabletten (0 bis 25 Kilometer dezentrale Lagerung und größer 25 Kilometer Lagerung in mehreren zentralen Lagern) ist an die vergrößerten Planungsgebiete geeignet anzupassen.“  Das hat nun weitreichende Folgen. Allein durch die Vergrößerung der Planungsgebiete entsteht ein größerer Bedarf an bevorrateten Jodtabletten, die im Katastrophenfall bei den betroffenen Menschen die Schilddrüse davor bewahren sollen, freigesetzte radioaktive Iodisotope zu inkorporieren. 

Als Fernzone gilt im Katastrophenfall das gesamte Staatsgebiet

Vier Zonen kennt diese Planung für den Katastrophenfall: die Zentralzone, die Mittelzone, die Außenzone und die Fernzone. Bis zur Neuregelung umfasste die Zentralzone den Bereich im Zwei-Kilometer-Umkreis um ein Atomkraftwerk (AKW). Sie wurde auf fünf Kilometer vergrößert. Die Mittelzone wuchs von Zehn-Kilometer-Umkreis auf 20 Kilometer. Die Außenzone galt vor Fukushima als bis 25 Kilometer Entfernung, nun sind es 100 Kilometer, und die Fernzone schließlich wuchs von bisher bis 100 Kilometer Entfernung auf nun das gesamte Gebiet der Bundesrepublik.

Bislang würden im 25-Kilometer-Umkreis um AKW Kaliumjodidtabletten, die den Bundesländern gehören, dezentral gelagert, also bevölkerungsnah in den Gemeinden und auf Kreisebene, erklärt eine Sprecherin des BMUB. „Für den Bereich ab 25 Kilometer um ein Kernkraftwerk lagern die im Eigentum des Bundes befindlichen Jodtabletten in acht zentralen Lagern in Neumünster, Cloppenburg, Wunstorf, Eggenstein-Leopoldshafen, Lahr, Würzburg, Roding und Kempten“, sagt die Sprecherin. „Von diesem Konzept hat sich Nordrhein-Westfalen seit mehreren Jahren gelöst und lagert Jodtabletten dezentral ein“, so die Sprecherin. Allerdings gibt es in NRW auch keine AKW. Bisher lägen dem BMUB aber keine Erkenntnisse darüber vor, ob weitere Länder eine Beschaffung von Jodtabletten nach dem Beispiel NRWs vorsähen, sagt sie

In der Nähe der acht noch im Betrieb befindlichen AKW sind Tabletten vorhanden

Acht AKW sind noch bis spätestens 2022 in Betrieb in den Bundesländern Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Dort sind entsprechend den bisherigen Katastrophenschutz-Planungen ohnehin bereits im Länderbesitz befindliche Jodtabletten eingelagert. In Zukunft aber könnten andere Bundesländer dem Beispiel NRWs folgen und für alle Fälle dezentral Tabletten einlagern. Im Falle von NRW geschah das vor allem aus Sorge um die AKW in der Nachbarschaft, insbesondere den Pannenreaktor im belgischen Tianghe. „Mit der Umsetzung der neuen Empfehlungen müssen mehr Iodtabletten vorgehalten werden. Seitens des Bundes wird daher ein Wechsel zu einer dezentralen Bevorratung favorisiert“, erklärt die Ministeriumssprecherin. Die Lagerung solle künftig dezentral in ausschließlicher Zuständigkeit der Länder erfolgen.

Novellierung des Strahlenschutzgesetzes soll Kostenfrage klären

Bislang aber verfüge der Bund mangels Aufgabenzuständigkeit nicht über eine Finanzierungskompetenz, sagt die Sprecherin. Denn die Jodblockade als Katastrophenschutzmaßnahme läge in der Verantwortung der Länder. „Daher sind die Länder gebeten worden, die Versorgung der Bevölkerung mit Iodtabletten für die erweiterten Planungsgebiete zu überprüfen und, falls Versorgungsdefizite gesehen werden, die jetzt erforderlichen Jodtabletten zu beschaffen“, sagt die Sprecherin. Mit der Umsetzung seien die Länder noch beschäftigt. Thüringen etwa hat gerade erst einen Mehrbedarf von 3,3 Millionen Tabletten für rund 550.000 Thüringer angemeldet, die in den entsprechenden Grenzgebieten zum AKW Grohnde in Niedersachsen wohnen. Nach Ansicht der Thüringer Landesregierung aber müsste der Bund für diese Tabletten aufkommen – was beim Treffen der Innenminister im November wohl entsprechend formuliert werden wird.

Klarheit bei der Kostenfrage soll eine geplante Novellierung des Strahlenschutzgesetzes geben, erklärt die Sprecherin des Bundesumweltministeriums. Darin nämlich solle eine künftige Beschaffung oder Ersatzbeschaffung der Jodtabletten als Bundesaufgabe verankert werden. Allein – es gibt noch keinen Termin dafür, wann diese Novellierung auf den Weg gebracht werden soll.

52 Millionen Tabletten sind noch in den zentralen Lagern

Bis dahin stünden seitens des Bundes aber weiterhin die Jodtabletten aus den zentralen Lagern für die „Verteilung im Ereignisfall“ zur Verfügung. Nachdem NRW einige der eingelagerten Kontingente übernommen habe, stünden in den acht Lagern insgesamt noch rund 52 Millionen Jodtabletten bereit, so die Sprecherin. Und wer selber vorsorgen möchte, erhält die Kaliumjodidtabletten „Lannacher“ als 65 Milligramm-Tabletten rezeptfrei in seiner Apotheke.

Jodblockade

Im Falle eines Reaktorunglücks werden in der Regel radioaktive Isotope des Elements Jod freigesetzt. Um zu verhindern, dass diese in der Schilddrüse eingelagert werden und so mittelfristig zur Entstehung von Krebs oder anderen Strahlenschäden führen können, werden im Katastrophenfall an die Bevölkerung Kaliumjodidtabletten mit einer hohen Dosierung von 65 Milligramm (Typ „Lannacher“) ausgegeben.

Nach den Empfehlungen der Strahlenschutzkommission erhalten je nach Entfernung zum Unglücksort insbesondere Schwangere sowie Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren die Tabletten, beziehungsweise Erwachsene bis 45 Jahren. Die hohe Joddosis „blockiert“ die Aufnahme radioaktiven Jods in der Schilddrüse durch die Sättigung. Die Tabletten sollen damit insbesondere Spätfolgen minimieren, sind aber natürlich kein unmittelbarer Schutz vor der Strahlung. Vergleichsdaten nach dem Tschernobyl-Unglück aus Regionen, in denen eine Jodblockade durchgeführt wurde, belegen die Wirksamkeit bei der Vermeidung von Spätfolgen wie Schilddrüsenkrebs.

Die Tabletten müssen allerdings genau nach Vorschrift eingenommen werden, da es auch unerwünschte schädliche Wirkungen der Einnahme geben kann.

Ausgegeben werden sie im Katastrophenfall durch die entsprechenden Behörden, in manchen Bundesländern im unmittelbaren Umkreis um Atomkraftwerke auch vorsorglich. Rezeptfrei sind entsprechende Tabletten auch in der Apotheke erhältlich.



Volker Budinger, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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