Die Evidenzsprechstunde

Wenn „das richtige Leben“ in die Irre führt

Stuttgart - 09.09.2016, 09:00 Uhr

 Randomisierte kontrollierte Studien haben einen großen Vorteil. (Foto: chombosan / Fotolia)

 Randomisierte kontrollierte Studien haben einen großen Vorteil. (Foto: chombosan / Fotolia)


Gleiche Voraussetzungen

Aus diesem Grund haben randomisierte kontrollierte Studien einen großen Vorteil und berechtigterweise ihre Vorrangstellung bei der Bewertung von therapeutischen Maßnahmen: Durch die zufällige Zuteilung der Patienten auf die Behandlungs- und die Kontrollgruppe ist gewährleistet, dass sowohl die bekannten als auch die unbekannten Einflussfaktoren gleichmäßig verteilt sind. Damit sind faire Ausgangsbedingungen für eine vergleichende Untersuchung geschaffen und das Risiko für ein verzerrtes Ergebnis sinkt. 

RCTs: Nicht zwangsläufig künstlich

Die Randomisierung hat übrigens auch nichts damit zu tun, ob die Studie unter Praxisbedingungen abläuft und ein breites Spektrum von relevanten Patienten einschließt. Es ist sehr wohl möglich, diese Bedingungen auch mit RCTs einzuhalten. Dass es so häufig nicht passiert, hängt auch damit zusammen, dass viele RCTs im Rahmen von Zulassungsstudien durchgeführt werden, bei denen der Hersteller das Risiko minimieren will: Das betrifft vor allem das Problem, dass bei sehr unterschiedlichen Patienten die Therapieeffekte im Mittel kleiner ausfallen als bei handverlesenen Studienteilnehmern. Durch sehr strikte Auslese reduziert sich jedoch die Übertragbarkeit der Studienergebnisse in die Behandlungspraxis.

Pragmatischer Ansatz für die RCTs

Es geht jedoch auch anders: In den letzten Jahren wurde vermehrt diskutiert, wie RCTs die Praxisbedingungen besser abbilden können. Unter dem Stichwort „pragmatic RCT“ haben Fachleute eine ganze Reihe von Vorschlägen entwickelt. Wichtig zu wissen: Dabei wird das Prinzip der Randomisierung wegen der beschriebenen Vorteile nicht aufgegeben, sondern lediglich die Rahmenbedingungen der klinischen Prüfung so verändert, dass sie besser dem Alltag entsprechen.

Holzweg Express-Zulassung

Wegen der beschriebenen Zusammenhänge sind die Pläne der europäischen Arzneimittelagentur EMA zur Beschleunigung der Zulassung („adaptive pathways“) höchst bedenklich, wie viele Experten zu Recht bemängeln. Dabei sollen Arzneimittel die Zulassung bereits auf der Basis von weniger Daten aus RCTs als bisher erhalten. Im Gegenzug soll weiterer Erkenntnisgewinn aus „real world data“ dazu kommen. Welche Konsequenzen das haben kann, machten auch Beiträge bei einem Symposium des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im letzten Herbst deutlich.

Gefahr: Übertriebener Effekt

Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch eine Analyse, die die Effekte auf die Mortalität in Studien mit „real world data“ mit denen von späteren RCTs verglich, die die gleiche Therapie untersuchten. Dabei stellten die Autoren fest, dass die Studien mit Versorgungsdaten die Auswirkungen der Behandlung auf die Sterblichkeit im Durchschnitt um rund 30 Prozent überschätzen. Deshalb warnen sie davor, sich bei Therapieentscheidungen auf Studien mit „real world data“ zu verlassen.

Fazit

RCTs schaffen nicht automatisch eine künstliche Umgebung, die mit dem richtigen Leben nichts zu tun hat. Sie sorgen vielmehr für faire Ausgangsbedingungen für den Vergleich von Therapien – und das ist ein wesentlicher Vorteil gegenüber Beobachtungsdaten. Das „wirkliche Leben“ kann also manchmal auch massiv in die Irre führen.



Iris Hinneburg, freie Medizinjournalistin und Pharmazeutin
redaktion@daz.online


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4 Kommentare

Beobachtungsstudien, Adaptive Studien und RCTs: Chancen für zukünftige Herausforderungen

von Janick Weberpals am 13.09.2016 um 11:01 Uhr

Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Redakteure und Leser der DAZ,

mit großem Interesse habe ich ihren Beitrag mit dem Titel „Wenn das richtige Leben in die Irre führt“ vom 09.09.2016 gelesen. Darin beschreibt die Autorin die kritische Abwägung zwischen Beobachtungsstudien und klinisch-randomisierten und kontrollierten Studien (RCTs) und kommt zu dem Schluss, dass letztere wesentliche Vorteile gegenüber Beobachtungsstudien haben, da solche z.T. „massiv in die Irre führen können“.

Zugegebenermaßen sind gut geplante und durchgeführte RCTs der Goldstandard wenn es darum geht die Effektivität eines Arzneimittels zu prüfen. Dafür sind die drei folgenden Grundpfeiler ausschlaggebend: Randomisierung, Verblindung und Kontrolle (gegen Placebo oder bisheriger Standardtherapie). Um für die von der Autorin genannten Störfaktoren („Confounder“) und systematischen Verzerrungen („biases“) von Studien, die natürlich bei Beobachtungsstudien zu zweifelhaften Ergebnissen führen können (Weberpals et al., Cancer Treat Rev 2016), zu adjustieren ist die Randomisierung eine hocheffektive Methode. Jedoch gibt es einige Szenarien, bei denen RCTs schlicht und einfach nicht durchgeführt werden können bzw. zu nicht befriedigenden Antworten beitragen können, da es sich aus ethischen, finanziellen oder zeitlichen Gründen verbietet. Es gibt beispielweise zahlreiche unerwünschte Arzneimittelwirkungen, die schlicht zu selten sind um diese in RCTs zu erfassen, da diese mit meist ca. 1000-3000 Patienten zu klein sind und eine zu geringe Follow-up-Zeit haben. Denken wir nur mal an Agranulozytosen, Steven-Johnson Syndrome oder progressive multifokale Leukenzephalopathien. Was passiert, wenn Arzneimittel durch Patientenkollektive -z.B. Schwangere- angewendet werden, die in den Zulassungsunterlagen nicht vorgesehen sind? Was passiert, wenn ein neues Medikament zugelassen wird und auf einmal Millionen Menschen weltweit exponiert sind, die sich in vielen ihrer Grundeigenschaften (Alter, Krankheitsschwere, Kontraindikationen, etc.) oder im Vergleich zu den Eigenschaften der Patienten der entscheidenden Zulassungsstudie unterscheiden? Meistens sind es Beobachtungsstudien/Post-Authorization Studies (PASS), die damit wesentlich zur Arzneimittelsicherheit beitragen.

Beobachtungsstudien können neben sicherheitsrelevanten Fragen jedoch auch einen Beitrag zur vergleichenden Alltags-Effektivität („comparative effectiveness“) leisten. Die Autorin spricht in ihrem Artikel die bereits genannten Grundeigenschaften von Patientenkollektiven an, die niemals vollständig von elektronischen Patientenakten, Registern, o.ä. erhoben werden können, was wahr ist und zu den größten Limitierungen von Beobachtungsstudien gezählt werden kann. Jedoch gibt es Dank der großartigen methodischen Arbeit vieler Wissenschaftler auf dem Gebiet der Pharmakoepidemiologie in den letzten Jahrzenten nicht nur statistische Methoden, mit denen man für diese „Imbalance“ von gemessenen Grundeigenschaften Rechnung tragen kann (z.B. „Propensity Scores“), sondern auch pfiffige und intelligente Studiendesigns (z.B. selbstkontrollierte „case-crossover“ Designs), mit denen man diese fehlenden Informationen nicht unbedingt messen muss und dennoch dafür kontrollieren kann (Schneeweis et al., Clin Pharmacol Ther 2011). Adaptive Zulassungsstudien könnten den Vorteil mit sich bringen noch mehr Informationen und Details innerhalb des Zulassungsprozesses zu gewinnen. Man darf nicht vergessen, dass man auch eine gute Einsicht in die Arzneimittelanwendung („Drug utilization“) einer Population erhält. Damit ließen sich Fragen beantworten wie z.B. was die Anwendergruppe eines Medikaments, bei denen das Arzneimittel anspricht, unterscheidet im Vergleich zu einer anderen Anwendergruppe? Was ist der ausschlaggebende Punkt, der einen Patienten oder einen Arzt dazu bewegt eher Medikament A anstelle von Medikament B zu nehmen/verschreiben? Dies sind wichtige Fragen, die Entscheidungsträger (Kliniker, Öffentliche Arzneimittelbehörden, Gesundheitspolitiker) und Stakeholder (Pharmazeutische Unternehmer, Krankenversicherungen) beschäftigen.

Nach dem AMNOG im Jahr 2011 ist daher die Wichtigkeit der „real-world evidence“ gefragter denn je und wird im Rahmen schwieriger zukünftiger Herausforderungen auch immer wichtiger werden wenn man bspw. an sogenannte „Hochpreiser“ oder Biosimilars denkt. Gerade letztere sind neue Arzneimittelprodukte, mit denen man noch keine große Erfahrung hat und deren Umgang und Administration Entscheidungsträger vor viele Fragen und Herausforderungen stellt. Letzten Endes ist dies auch ein Feld, in dem sich Apotheker profilieren könnten, denn wir sind diejenigen, die zwischen Arzneimittel und Patient stehen. In Nordamerika sind Apotheker bereits etablierter Bestandteil eines „real-world effectiveness“ Systems, sei es in der Wissenschaft, der Pharmazeutischen Industrie oder bei den zuständigen Gesundheitsbehörden. Wir sollten den Anschluss nicht verpassen und unsere Augen für die Chancen, die Beobachtungsstudien und adaptive Designs mit sich bringen können, nicht verschließen.

Es ist natürlich wichtig Beobachtungsstudien im richtigen Kontext durchzuführen, zu analysieren und zu interpretieren. Dafür müssen diese nach dem MVET Schema (Schneeweiss und Gagne et al., International Conference on Pharmacoepidemiology, Dublin 2016) folgende Eigenschaften der Evidenzfindung mit sich bringen: Sinnhaftigkeit/Bedeutsamkeit (Meaningful), Validität (Valid), Zeitmäßigkeit/Schnelligkeit (Expedited) und Transparenz (Transparent).

Als Fazit möchte ich betonen, dass RCTs nach wie vor mit Recht den Mittelpunkt der klinischen Forschung darstellen. Jedoch schließt dies nicht die Beteiligung von Beobachtungsstudien aus, die durchaus eine Daseinsberechtigung haben. Beide Studienformen ergänzen sich gut und werden mit sorgfältiger Interpretation, für die erfahrene Wissenschaftler und Herausgeber von medizinisch-wissenschaftlichen Journalen gefragt sind, das „wirkliche Leben“ nicht zwangsweise „in die Irre führen“.

Janick Weberpals, Apotheker
Doktorand Pharmakoepidemiologie

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AW: Beobachtungsstudien, Adaptive Studien

von Dr. Iris Hinneburg am 17.10.2016 um 8:37 Uhr

Vielen Dank für die ausführlichen Anmerkungen. Natürlich haben Beobachtungsstudien ihren Stellenwert und nicht immer sind RCTs möglich. Allerdings lassen sich mit Beobachtungsstudien immer nur Assoziationen, nie kausale Zusammenhänge bestimmen. Damit steigt also die Unsicherheit unseres Wissens. Deshalb sollten wir auch nie auf RCTs verzichten, wenn sie möglich sind. Die regulatorische Praxis geht derzeit leider in eine andere Richtung.

Zu den von Ihnen angesprochenen statistischen Verfahren: Nach meinem Wissen können propensity scores auch nur für bekannte Confounder kontrollieren. Ich bin kein Experte für das case-crossover design, bin jedoch auf folgendes Caveat gestoßen: "However, the case–crossover design is only appropriate to investigate the effects of incidental exposures on the event of interest and, therefore, is not suitable to estimate the risk in people exposed to long-term treatments" [Ravera et al. Eur J Epidemiol. 2012 Jun; 27(6): 473–481]. Confounder in Beobachtungsstudien können ja sehr wohl langfristiger Natur sein...

Studien

von J. Barth am 12.09.2016 um 9:12 Uhr

Hier wird aber wider einiges durchmischt.
Ja, es ist richtig, bei der Neuzulassung eines neuen Wirkstoffes hat man sehr homogene patienten 8den ansonsten "gesunden" Kranken). Der therapeutische Effekt soll ganz klar heraus kommen. Das sieht später ganz anders aus. Patienten haben Komorbiditäten, sind ganz alt usw. Dafür -zur Risikodetektion und "wahrem Stellenwert"- gibt es dann ja Phase IV Studien, die ja gerade in letzter Zeit gerne als Korruptionsinstrument vorverurteilt werden.....

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AW: Studien

von Dr. Iris Hinneburg am 17.10.2016 um 8:39 Uhr

Die von Ihnen angesprochenen Aspekte finden sich in dem im Artikel erwähnten Konzept von "pragmatic RCT" wieder und sind kein Grund, auf Randomisierung zu verzichten. Und natürlich dürfen Phase-IV-Studien auch RCT sein - da ist es keineswegs nötig, nur Anwendungsbeobachtungen durchzuführen, bei denen es ja noch nicht einmal eine Kontrollgruppe gibt.

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