Welttag Suizidprävention:

Kontakt aufnehmen, offen kommunizieren und aktiv werden

09.09.2016, 15:00 Uhr

„Gefährdete müssen wieder einen Weg erkennen können“, sagt Willy Riemer von der Krisenhilfe Münster. (Foto: Jamrooferpix / Fotolia)

„Gefährdete müssen wieder einen Weg erkennen können“, sagt Willy Riemer von der Krisenhilfe Münster. (Foto: Jamrooferpix / Fotolia)


Ein Mann nimmt sich das Leben. Er hinterlässt eine Lebensgefährtin, die verzweifelt ist – und zugleich wütend. Mehr als 25 Jahre später hat Elfriede Loser den Verlust verarbeitet. Heute hilft sie anderen Hinterbliebenen. Der Welttag der Suizidprävention soll das stigmatisierte Thema Suizid in das Bewusstsein der Menschen führen. Er findet jedes Jahr am 10. September statt. 

Elfriede Loser war 30 Jahre alt, als sie ihren Lebensgefährten Horst verlor. „Er kam einfach nicht mehr heim“, sagt die Bayreutherin. „Ich habe ihn gesucht, weil er zwei Tage verschwunden war und als ich dann im Wald in Richtung seines Lieblingsplatzes lief, kam mir schon die Polizei entgegen. Sie hatten ihn gefunden.“ Er hatte sich das Leben genommen. Das war im Oktober 1990.

Heute – mehr als 25 Jahre danach – arbeitet Loser für den Verein Agus. Sie hilft Hinterbliebenen, die einen nahestehenden Menschen verloren haben, der nicht mehr leben wollte – oder konnte. 850 Mitglieder hat der Verein, 60 regionale Selbsthilfegruppen und Kontakt zu rund 5000 Betroffenen in ganz Deutschland.

Suizide nehmen wieder zu

Nachdem sie jahrelang zurückgegangen war, von mehr als 14.000 im Jahr 1991 auf 9400 im Jahr 2007, steigt die Zahl der Suizide in Deutschland seit 2007 wieder an, sagt der Psychiater Manfred Wolfersdorf kurz vor dem Welttag der Suizidprävention am 10. September. Er ist Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Bayreuth und Leiter des Depressionszentrums.

Im Jahr 2014 nahmen sich laut Statistischem Bundesamt 10.209 Menschen das Leben, 7624 davon Männer. Woran der Anstieg liegt, sei in der Forschung umstritten. Einige Wissenschaftler sehen einen Zusammenhang mit „Suizidmodellen“ wie dem Tod von Fußball-Torwart Robert Enke im Jahr 2009, andere – wie Wolfersdorf – sehen das als „Ausdruck der wirtschaftlichen Situation“ und messen vor allem dem „Faktor existenzielle Bedrohung“ eine Bedeutung zu. 2007 ging die Finanz- und Wirtschaftskrise los.

Ihr Freund habe zwar einen Abschiedsbrief hinterlassen, doch der habe für sie mehr Fragen aufgeworfen, als Antworten gegeben, sagt Elfriede Loser, die heute 56 Jahre alt ist. „Es sind immer einsame Entscheidungen und die Suche nach dem Warum ist eine Lebensaufgabe. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass er die Antwort mit ins Grab genommen hat.“

Immer noch Tabuthema

„Suizid ist so gut wie immer ein plötzlicher Tod“, sagt die Geschäftsführerin des Vereins Agus, Elisabeth Brockmann. „Da zieht es einem sofort den Boden unter den Füßen weg.“ Ein weiteres Problem: „Suizid ist eine sehr stigmatisierte Todesursache. Hinterbliebene werden schief angeguckt.“

Elfriede Loser hat den Verlust ihres Lebensgefährten verarbeiten können, ist heute glücklich verheiratet. „Das ist schon ein jahrelanger Prozess, aber die Verzweiflung und auch die Wut haben aufgehört.“ Es sei für Hinterbliebene wichtig, „gnädig zu sein zu sich selbst“, sagt sie. „Ich habe alles getan zu Lebzeiten, was ich tun konnte, aber an seiner letzten Entscheidung war ich nicht beteiligt.“ Doch sie befürchtet: „Auf dieser Todesart wird immer ein Tabu bleiben.“

Mit dieser Befürchtung trifft Elfriede Loser auch die Einschätzung der International Association for Suicide Prevention (IASP). Suizid ist nicht nur gesellschaftlich stigmatisiert, auch Suizidgefährdeten fällt es schwer, über ihre Suizidgedanken mit ihrem behandelnden Arzt oder Therapeuten zu sprechen. Nach Angaben der IASP, suchen Patienten vor verübtem Suizid auffallend häufig einen Arzt auf. Die Suizidgefährdung bleibe allerdings häufig unerkannt. Betroffene hätten oft Angst, als psychisch krank abgestempelt oder nicht ernst genommen zu werden. Manche fürchten einen Autonomieverlust durch zwangsweise Behandlung.

Suizide in Deutschland: Wo finden Gefährdete Hilfe?

In Deutschland sterben jedes Jahr etwa 10.000 Menschen durch Suizid – das sind so viele wie durch Verkehrsunfälle, HIV, illegale Drogen und Gewalttaten zusammen. 70 Prozent der durch Suizid Verstorbenen sind Männer, das durchschnittliche Lebensalter liegt bei 58 Jahren.

Die Anzahl der Suizidversuche liegt deutlich höher: Rund 100.000 Menschen versuchen jährlich sich das Leben zu nehmen. Die Versuche zum Suizid werden hauptsächlich von jüngeren Frauen unternommen. Etwa jeder Dritte unternimmt einen weiteren Versuch, zehn Prozent sterben letztendlich.

Suizidversuche sollten immer ernst genommen werden, als „Hilferufe“ der Betroffenen und Zeichen schwerwiegender psychischer Probleme.

Hilfe, auch anonym, finden Betroffene bei der Telefonseelsorge, die auch im Chat oder per E-Mail erreichbar ist.

Suchen Menschen Hilfe in einem persönlichen Gespräch, können sie sich an Ärzte, Psychologen, psychiatrische Kliniken, Psychiater und Pfarrer (Rabbiner, Imam) wenden. Ärzte und Psychologen unterliegen der Schweigepflicht. Pfarrer sind an das Beicht- und Seelsorgegeheimnis gebunden. 

Die Seite für Suizidprophylaxe nennt ebenfalls Anlaufstellen für Betroffene. Auch gibt es eigene Beratungsangebote für suizidgefährdete Jugendliche. Das Besondere: Die Jugendlichen werden von speziell ausgebildeteten Gleichaltrigen betreut.

Ein Experte im Gespräch: „Betroffenen kann man helfen“ ...

... sagt Willy Riemer von der Krisenhilfe Münster im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur. Der ehemalige Pastoralreferent hat über 15 Jahre Betroffene und ihre Angehörigen begleitet und berät ehrenamtlich Menschen, die in Lebenskrisen stecken.

„Gefährdete müssen wieder einen Weg erkennen können“, sagt der Experte. Dass Menschen nicht mehr leben wollen, heiße eigentlich nur eines: Sie wollen so wie jetzt nicht mehr leben. Riemer ist überzeugt, dass bereits kleine Gespräche oft helfen könnten. Das vollständige Interview mit Willy Riemer lesen Sie im Kasten.

„Betroffenen kann man helfen“

dpa: Was bewegt einen Menschen dazu, nicht mehr Leben zu wollen?

Riemer: „Ich will nicht mehr leben“ bedeutet eigentlich: Ich will so nicht mehr leben. Es sind in der Regel komplexe Themen, die uns Menschen in tiefe Krisen stürzen. Wenn zum Beispiel jemand seinen Job verliert, bedeutet das nicht nur den Verlust des Arbeitsplatzes, sondern auch den Verlust von finanzieller Sicherheit und sozialer Anerkennung. Der Betroffene sieht in seinem Leben keine Perspektive mehr. Ein Beispiel ist Griechenland. Früher hat es dort verschwindend wenige Suizide gegeben. Aber als Griechenland in die Krise gekommen ist, sind die Zahlen sprunghaft angestiegen.

dpa: Woran können Freunde und Familienmitglieder merken, dass jemand suizidgefährdet ist?

Riemer: Die Angehörigen fallen oft aus allen Wolken und sagen: Oh Gott, ich habe ja gar nichts gemerkt. Können sie auch nicht. Wenn der Entschluss wirklich gefallen ist, sind suizidgefährdete Menschen ganz ruhig, und das Umfeld bekommt nichts mit. Aber Signale können zum Beispiel sein, dass Menschen ihre Art der Kommunikation und ihre Art zu Leben oder auch ihre Werte plötzlich verändern. Rückzug kann ein Hinweis sein, oder auch das Regeln von Hab und Gut. Der Betroffene verschenkt dann Sachen, die ihm viel bedeutet haben. Manchmal fallen Bemerkungen, die auf den Suizid hinweisen, aber in dem Kontext nicht verstanden werden.

dpa: Was hilft suizidgefährdeten Menschen?

Riemer: Sie müssen wieder einen Weg für sich erkennen. Das, was sich den Menschen als großes Chaos darstellt, in dem es keine Perspektive gibt, kann im gemeinsamen Gespräch sortiert werden. Durch das Differenzieren wird sichtbar, welche Problembereiche es gibt. „Welcher Schuh drückt am meisten?“, ist eine wichtige Frage. Durch das Sortieren wird der Druck insgesamt schon reduziert. Der Berg kann sprichwörtlich nur Stein für Stein abgetragen werden.



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