Türkei

Die Folgen des Putschs für die Pharmazie

Stuttgart - 27.07.2016, 07:00 Uhr

Eingang Universität Istanbul: Wann sind die Tore wieder offen? (Foto: Danbury / Wikipedia, CC BY-SA 3.0)

Eingang Universität Istanbul: Wann sind die Tore wieder offen? (Foto: Danbury / Wikipedia, CC BY-SA 3.0)


Präsident Erdoğan griff nach dem Putschversuch nicht nur bei Richtern und Soldaten durch, sondern auch bei Wissenschaftlern. Türkische Forscher erhielten Reiseverbote. DAZ.online sprach mit Wissenschaftlern – viele zeigen sich schockiert. Anders jedoch die türkische Präsidentin des europäischen Verbands der pharmazeutischen Wissenschaften.

Direkt nach dem gescheiterten Putschversuch ging der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in die Offensive über: Er entließ mehr als 50.000 Staatbedienstete oder enthob sie ihrer Ämter. Darunter waren nicht nur Soldaten, Richter und Lehrer, sondern auch alle 1577 Rektoren und Dekane des Landes. Ihnen wurde unterstellt, mit der oppositionellen Gülen-Bewegung zusammenzuarbeiten – nur ein Teil wird später ihre Arbeit wiederaufnehmen dürfen. Weitere rigide Maßnahmen trafen jeden Wissenschaftler, der an einer türkischen Universität arbeitet: Ihnen wurden Auslandsreisen verboten, und türkische Gastwissenschaftler im Ausland mussten zurück in die Türkei kommen.

Pharmaziestudenten sind geschockt

Die Regierungsmaßnahmen wurden scharf kritisiert. Horst Hippler, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, sprach von einer „Vernichtung des freien Geistes“ – und für Margret Wintermantel, Präsidentin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), ist die massive und substanzielle Verletzung der Autonomie türkischer Hochschulen wie auch das Reiseverbot nicht hinnehmbar. Nach Angaben des DAAD befanden sich im Jahr 2014 rund 640 türkische Gastwissenschaftler in Deutschland. Dazu kamen knapp 1000 türkische Forscher, die an deutschen Hochschulen arbeiten – und mehr als 700 Doktoranden. Auch wenn sie offenbar in Deutschland bleiben können, wenn sie nicht bei türkischen Universitäten angestellt sind, dürfte ihre Zukunft nun äußerst ungewiss sein.

Zwischen türkischen und deutschen Pharmazeuten gibt es viele Kontakte. Während die Deutsche Pharmazeutische Gesellschaft auf eine Anfrage noch nicht geantwortet hat, antwortet der Bundesverband der Pharmaziestudierenden prompt. Den Verband „schockiert dieses Ausreiseverbot für Wissenschaftler“, erklärt Pressesprecherin Hannah Ruhhammer. Erst vor ein paar Wochen haben in einem Austauschprogramm Studenten aus Freiburg Kommilitonen in Istanbul besucht, welche im März zu Gast im Breisgau waren. „Solche Austauschprogramme werden sich in Zukunft wohl nicht mehr so leicht realisieren lassen, was furchtbar schade ist“, erklärt sie. Denn Wissenschaft basiere auf Austausch – derartige Einschränkungen seien durch nichts zu rechtfertigen.

Es war eine schreckliche Nacht

Wie schätzen türkische Forscher die Lage ein? Es ist derzeit nicht ganz leicht, Kontakt herzustellen. Wohl jeder Forscher muss befürchten, dass seine Äußerung genau beobachtet wird – von staatlichen Stellen, oder Kollegen. Ein Pharmazeut, der in Deutschland promoviert hat, schreibt, dass er sich aufgrund der „aktuellen prekären Lage“ nicht äußern könne. Doch die Präsidentin der European Federation for Pharmaceutical Sciences (EUFEPS), Erem Bilensoy, ist zu einem Telefonat bereit. Als Professorin für pharmazeutische Technologie steht sie EUFEPS seit 2014 vor – der türkische Verband bringt sich schon seit Langem auf europäischer Ebene stark ein.

Bilensoy erklärt gegenüber DAZ.online, dass es für Pharmazeuten eigentlich keine Auswirkungen gebe – angesichts des Putschversuchs zeigt sie Verständnis für das Vorgehen Erdoğans. „Es war eine schreckliche Nacht“, sagt sie. „Ich lebe in Ankara, die Stadt wurde von Milizen bombardiert. Wir konnten die Jets und das Bombardement sehen – es hielt bis zum nächsten Morgen an.“ Auch seien die meisten Türken gegen den Putschversuch.

Wissenschaftler werden warten müssen

Die Reiseverbote seien eine Vorsichtsmaßnahme, da die Gülen-Gruppe viele Mitglieder an den Universitäten hätte. „Für einige Wochen können wir unsere Aufgaben im Ausland nicht erfüllen, aber das ist vorübergehend“, erklärt Bilensoy gegenüber DAZ.online. Bezüglich ihrer Arbeit für EUFEPS habe sie bisher keine Probleme gehabt. „Es ist ein Problem, wenn ich für eine Vorstandssitzung nicht ins Ausland reisen kann – aber dann kann ich mich per Telefonkonferenz einschalten“, sagt sie. Reisen hätte sie nicht stornieren müssen, in den nächsten Wochen seien ohnehin keine geplant. „Ich bin zurück im Büro und habe keine Einschränkungen gespürt“, sagt Bilensoy.

Seit Freitag ist das Reiseverbot nun wieder aufgehoben – doch dürfen Wissenschaftler von türkischen Universitäten weiterhin keinen Tätigkeiten im Ausland nachgehen. „Wenn das immer so weitergeht, ist es ein Problem”, erklärt Bilensoy. Die Wissenschaftler, die nun auf ein Austauschprogramm gehen wollten, werden warten müssen. Aber die Situation in der Türkei sei schrecklich gewesen. „Ich unterstütze die Entscheidung“, sagt sie.

Wissenschaftliche Zusammenarbeit für globalen Frieden

Eigentlich wollte EUFEPS zum diesjährigen 25-jährigen Geburtstag die Jahrestagung in der Türkei abhalten – doch wurde diese nach den Anschlägen auf den Flughafen in Istanbul abgesagt. „Wegen der globalen Sicherheitslage werden wir keine Jahrestagung haben“, erklärt Präsidentin Bilensoy. Dabei sei es von immenser Bedeutung, dass Wissenschaftler aller Länder zusammenarbeiten. „Wissenschaft ist global, Wissenschaft hat keine Nationalität – es ist sehr wichtig, dass Wissenschaftler zusammen für den globalen Frieden arbeiten“, sagt die Pharmakologin.

Özgün Özyiğit vom Internationalen Verband der Pharmaziestudenten an der Universität Istanbul, hat sich mit Kommilitonen von anderen Universitäten abgestimmt, um die Fragen von DAZ.online zu beantworten. Vorneweg möchte er Gebete und die besten Wünsche für die Opfer des Anschlags in München schicken, schreibt Özyiğit – an vielen Orten der Welt gebe es schwierige Zeiten. „Ohne irgendeine politische Ansicht zu vertreten verurteilen wir die Gruppe von Soldaten, die ein so schreckliches Ereignis über ihr eigenes Volk gebracht haben“, erklärt er zum Putschversuch.

Fortschritt durch Demokratie und Pharmazie

Nicht nur Regierungsanhänger seien entsetzt, sondern auch Oppositionelle. „Jeder wusste, dass nichts anderes als die Demokratie die richtige Antwort ist“, erklärt Özyiğit. „Als türkische Jugend werden wir hieraus lernen und noch stärker daran arbeiten, derartiges in der Zukunft zu verhindern – und die Türkei als die moderne, säkulare Republik zu erhalten, die sie heute ist“, schreibt der Pharmaziestudent.

Um die Disziplin voranzubringen, müssten alle Studenten überall auf der Welt zusammenarbeiten. „Kooperationen mit Pharmaziestudenten überall in Europa sind für uns sehr wichtig, um dieses Ziel zu erreichen, betont Özyiğit. „Kommunikation und die Motivation, die sie mit sich bringt, öffnet die Tür für Verbesserung.“ 



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


Diesen Artikel teilen:


1 Kommentar

Erdogans Demokratieverständnis

von Heiko Barz am 27.07.2016 um 11:43 Uhr

Diese zynische Degradierung der Türkischen "Intelligenz" erinnert doch fatal an die 30er bis Anfang der 40er Jahre und auch an "Erichs" Glanztaten. Die Parallelen sind mehr als deutlich.
Da, wo heute fanatisierte "Erdogantruppen" vandalisierend durch deutsche Straßen marodieren und auch massiv militant gegen Oppositionelle in der Türkei vorgehen, gab es vor über 70 Jahren Judenverfolgung und "Kristallnacht" und zu besten Honneckerzeiten Ausreiseverbote hauptsächlich
für die Intelligenz, gegen das individuelle Ausbluten des Staates.
Alles im Rahmen der blütenreinen Demokratie.
Und Angela, die sicherlich gern anders reagieren würde, ist gefangen in ihrem "Deal" mit Erdogan und der Flüchtlingsproblematik, die nun offensichtlich täglich neue "Exzesse" hervorbringt.
Angela hätte im "Faust" lesen und erkennen müssen, dass man sich nicht verkaufen darf, um eigene Ziele zu erreichen.

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.