DAZ.Spezial - Eine kurze Karriere

Über Coca in der westlichen Medizin

Linz - 04.06.2016, 06:00 Uhr

Cocablätter (Foto: RioPatuca Images / Fotolia) Fotostrecke

Cocablätter (Foto: RioPatuca Images / Fotolia)


Kurze Karriere

Ein Gradmesser für die (schul-)medizinische Wertschätzung eines Arzneimittels ist auch seine Aufnahme in das Arzneibuch. Hinsichtlich der Coca und ihrer Zubereitungen ist auffällig, dass sie erst spät in Formularien und offizinellen Arzneibücher aufscheinen und vielfach verhältnismäßig rasch wieder gestrichen wurden. In der Pharmacopeia of the United States of America wird Coca erstmals in der 6. Ausgabe (1883) unter dem Titel Erythroxylon erwähnt; in der 7. Ausgabe (1893) lautet der Monographientitel Coca. Extractum cocae fluidum und Cocain sind erstmals aufgenommen. Im National Formulary waren um 1900 zeitweilig Wine of Coca, Aromatic Wine of Coca, Elixir of Coca, Elixir of Coca and Guarana und der Fluidextrakt enthalten.158 In der 8. Ausgabe der Pharmacopeia (1907) ist Coca noch enthalten, wohingegen die Monographie ab der 9. Ausgabe (1916) entfällt.

In der Pharmacopoea Germanica erscheint Cocain erstmals in der 3. Ausgabe (1890). Cocablätter werden dann zum ersten Mal in der 2. Ausgabe des Ergänzungsbuchs zum Arzneibuch (1897) geführt. 1910 finden sich Cocablätter dann in der 5. Ausgabe des Arzneibuchs. In der 3. Ausgabe des Ergänzungsbuches (1906) sind der Fluidextrakt und Cocawein enthalten und in der 4. Ausgabe (1916) folgt die Tinktur. Bereits im Kommentar zum DAB 5 von 1911 heißt es aber: „Die Kokablätter sind, in Anlehnung an deren Gebrauch durch die Indianer, früher als angeblich kräftiges Analepticum (anregendes Mittel) empfohlen wor­den; jetzt sind sie vollständig obsolet“.159 In der 6. Ausgabe des Arzneibuchs (1926) ist Coca nicht mehr enthalten. In der 7. Ausgabe der Pharmacopoea Austriaca (1889) sind Cocablatt und Cocain erstmals enthalten, aber bereits ab der 8. Ausgabe (1906) ist die Blattdroge nicht mehr monographiert.

Deutlich früher und dann auch häufiger fand sich Coca im französischen Arzneibuch ein; so wurde das Cocablatt bereits in den Codex medicamentarius von 1866 aufgenommen. In der Ausgabe von 1884 finden sich zudem Extrakt, Pulver, Sirup, Tinktur, Dekokt und Cocawein. Im Supplementband von 1895 wird erstmals Cocain monographiert. In der Ausgabe von 1908 ist Coca mit dem Hinweis auf Fluidextrakt und Tinktur enthalten. Sogar im Codex medicamentarius von 1937 sind das Cocablatt und seine Zubereitungen (Extrakt, Fluidextrakt, Tinktur und Wein) noch enthalten. Auch in anderen europäischen Arzneibüchern, wie denjenigen von Belgien, Spanien, Italien, Portugal, Russland und der Schweiz hielt sich die Coca bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts.160

„Coca Craving“

1855 wurde erstmals über einen Fall von „Morphingewöhnung“ berichtet, und auf der Suche nach Gegenmitteln zur Behandlung der „Morphiumsucht“ erprobte man auch verschiedene Alkaloide wie Atropin, Strychnin und Codein. Cocain wurde erstmals 1878 in Amerika als Hilfsmittel beim Morphinentzug empfohlen.161 Zu Beginn seiner medizinischen Karriere beschäftigte sich Siegmund Freud mit der Coca. Mit seiner überwiegend auf Literaturstudien beruhenden Arbeit über Coca hoffte er einen „glücklichen Wurf“ zu machen, der ihm wissenschaftlichen und finanziellen Erfolg bringen sollte.162 Auch Freud griff das Konzept der Morphinentwöhnung mit Cocain auf.163 Die Anwendung in der Praxis zeitigte allerdings tragische Folgen: Sein Studienkollege Ernst Fleischl von Marxow (1846–1891) hatte sich bei einer Obduktion eine Infektion zugezogen, als deren Folge ihm ein Daumen amputiert werden musste. Die danach auftretenden starken Schmerzen behandelte er mit Morphin. Freud gelang es, von Marxow durch Cocain vom Morphin zu entwöhnen. Die sich entwickelnde Abhängigkeit führte aber schließlich zum Selbstmord des Freundes, der 1880 zum a. o. Professor für Physiologie ernannt worden war.

Auch in Amerika waren mittlerweile Fälle von „Coca Craving“ bekannt geworden164 und der um sich greifende Missbrauch von Cocain gab Anlass zu zunehmender Besorgnis.165 1897 wurde in Illinois die Abgabe von Cocain unter Rezeptpflicht gestellt; andere Bundesstaaten folgten sukzessive. Mit dem „Narcotics Act“ von 1914 wurden die Rezeptpflicht und bestimmte Dokumentationspflichten bundesweit eingeführt.166 Weitere Gesetze trugen dazu bei, den Missbrauch zu beschränken, stimulierten aber zugleich die Entstehung illegaler Versorgungsstrukturen.167 Als Ergebnis der Ersten Internationalen Opiumkonferenz erlangte 1919 ein Abkommen weltweite Gültigkeit, dessen Ziel die Beschränkung des Verkehrs mit Morphin und Cocain war. Mit Hilfe mehrerer nachfolgender Vereinbarungen entstand bis in die 1930er Jahre ein rechtliches Umfeld, das den heutigen Gegebenheiten bereits nahekommt. Deutschland setzte diese Vorgaben mit der Verordnung über das Verschreiben Betäubungsmittel enthaltender Arzneien und ihre Abgabe in den Apotheken vom 19. Dezember 1930 um.168 In § 7 Abs. 2 der zugehörigen Ausführungsbestimmungen wird unter anderem festgelegt, dass Cocablätter und Zubereitungen von Cocablättern nicht verschrieben werden dürfen, womit der legalen Karriere der Coca ein Ende gesetzt war.169 



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