DAZ.Spezial - Eine kurze Karriere

Über Coca in der westlichen Medizin

Linz - 04.06.2016, 06:00 Uhr

Cocablätter (Foto: RioPatuca Images / Fotolia) Fotostrecke

Cocablätter (Foto: RioPatuca Images / Fotolia)


Ein Sorgenbrecher

116 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bestand in der westlichen Welt ein zunehmender Bedarf an leistungssteigernden „Nervennahrungsmitteln“,117 wofür sich auch die Coca besonders empfahl.118 Einerseits hatten neue pathogenetische Konzepte die Bedeutung der Nerventätigkeit für die Gesundheit in den Vordergrund gerückt,119 andererseits erzeugten veränderte Lebens- und Arbeitsweisen neue Problemfelder, und eine kausale Therapie im Sinne eines gesünderen Lebensstils schien illusorisch.120 Deshalb war die Anwendung von Stimulantien wie Wein, Tee, Kaffee, Tabak oder Coca, „which nature has placed in our hands, apparently for this very purpose“, das Gebot der Stunde.121 Medizinalweine erfreuten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steigender Beliebtheit122 und so war es naheliegend, auch die Coca auf diese Weise zu veredeln. Diese an sich wenig originelle Idee, zeitigte ungeahnte Folgen: Coca-Wein wurde mit einem nie zuvor dagewesenen Werbeaufwand auf den Markt gebracht, mutierte zu einem ubiquitären Konsumprodukt, das seinen „Großmeister“ berühmt und wohlhabend machte und stimulierte schließlich die Erfindung eines Getränkes, das zum erfolgreichsten Soft-Drink aller Zeiten werden sollte.

Auf der Industrieausstellung in Paris im Jahr 1867 bot ein gewisser Chevrier, „Pharmacien de Pérou“ ein „Elixir de Coca“ und einen „Vin de Coca“ als „Tonicum, Stimulans und Stomachicum“ an.123 Ein Jahr später veröffentlichte er ein Büchlein, das die erste reine Werbeschrift für Coca darstellt.124 In einem Inserat aus dem Jahr 1872 lässt Chevrier ausrichten, dass die wissenschaftliche Welt ihr „anerkennendes Urtheil über die Coca aus Peru längst und vielfach ausgesprochen“ habe. Der Coca-Wein sei das wirksamste Präparat, das man aus ihr herstellen könne. Er werde „mit beständigem Erfolge bei Dyspepsie, Erschöpfung, Chlorose und Anämie angewendet.“ Auch bei Gastralgie und schmerzhafter Verdauung sei er nützlich. Nicht nur von Chevriers Haupt-Depot in Paris konnte der Coca-Wein aus Peru bezogen werden, sondern auch von zwei Apotheken in Wien und einer in Pest.125 Da mochte auch Joseph Bain, „pharm. inventeur“ nicht nachstehen: Er gab 1869 gleichfalls eine Werbeschrift heraus126 und vermarktete Pastillen, Elixir und Vin de Coca über Inserate und ein auf Apotheken gestützes Vertriebsnetz.127

Etwa zur gleichen Zeit trat auch der in Korsika geborene Angelo Mariani (1838–1914), der in Paris in einer Apotheke tätig war, auf den Plan. Es heißt, er habe einer Schauspielerin, die über Depressionen klagte, mit einem selbst verfertigten Coca-Wein so gut geholfen, dass der Erfolg des Präparates sich gleichsam wie von selbst einstellte.128 Auch er machte zunächst mit Inseraten und Advertorials129 auf sich aufmerksam,130 bevor es ihm gelang, den Mitbewerb um Längen zu überflügeln. Denn, was „Vin Mariani“ an Einzigartigkeit vermissen ließ, kompensierte sein Schöpfer scheinbar mühelos mit einer genialen Marketingstrategie.131 

In einer Zeit, in der Unternehmen zunehmend als unpersönlich und seelenlos empfunden wurden, setzte dieser Meister der Selbstvermarktung gezielt auf die Figur des Firmenpatriarchen als Werbeträger. Die in den zahlreichen Firmenbroschüren abgedruckten Fallberichte und Dankschreiben sollten die Kundschaft von der überragenden Wirksamkeit des Coca-Weines überzeugen.132 Zudem ließen die an ihn gerichteten Briefe die verklärte Lichtgestalt Mariani lebendiger erscheinen und machten ihn sozusagen nahbar. Das dritte Element waren Stellungnahmen prominenter Markenfürsprecher,133 die auch in aufwendig gestalteten Alben mit Bild, Autographen und gedrucktem Text in Szene gesetzt wurden.134 Papst Leo XIII. (1810–1903), der Mariani aus Dankbarkeit mit einer Medaille bedacht haben soll und dessen Konterfei ein Werbeplakat für „Mariani Wine“ ziert, gibt dafür ein prominentes Beispiel.135

Portraits from Album Mariani. New York 1883

Der Großmeister und sein Werk. Angelo Mariani und ...

Portraits from Album Mariani. New York 1883

... der Vin tonique Mariani

Der Bariton Léon Melchissédec (1843–1925) wird in einer von Marianis Werbeschriften mit folgender Elegie zitiert: „I drink it, I absorb it, and so also does my family, and we are all deriving so much good from it that I shall never be without it. On my voice it acts like a charm. My friends and brother artists, to whom I have recommended it, drink it regularly and likewise speak in highest terms of the Vin Mariani“.136 Diese Passage macht deutlich, dass es schon längst nicht mehr nur um die Behandlung von Erkrankungen ging, sondern um ein Lebensgefühl.137 „Vin Mariani“ war ähnlich wie die ebenfalls zunächst als Arzneimittel vermarkteten Sodawässer und Brausepulver138 in die Sphäre der „Lifestyle-Präparate“ übergetreten. Damit verband sich zwangsläufig auch eine Veränderung des Marktzutrittes und des Marktauftrittes. Waren es zunächst die Ärzte gewesen, die als Verordner und als Meinungsbildner die primäre Zielgruppe für Marketingaktivitäten wurden, konnte man später dazu übergehen, die Konsumenten direkt anzusprechen und neue Vertriebswege zu etablieren.

Noch 1890 bedankte sich Angelo Mariani bei der Ärzteschaft in fast überschwänglicher Weise,139 während von dieser die neuen Gegebenheiten bereits als Verrat an der gemeinsamen Sache wahrgenommen wurden.140 Doch selbst der berühmte Mariani blieb von Konkurrenz nicht verschont und musste, sich von unliebsamen Marktbegleitern abgrenzen. Denn Nachahmer und Fälscher hätten es gewagt, „to apply to their own valueless productions the observations made with our special products“ und sie hätten damit – so Mariani – den Protest zahlreicher Ärzte ausgelöst.141 Als Beleg für die große Popularität von Coca-Wein in den USA kann auch die Tatsache dienen, dass in einer gebräuchlichen Rezepturensammlung gleich elf Varianten angegeben sind.142

Hinsichtlich der empfohlenen Indikationen zeigte die Coca eine bemerkenswerte Elastizität. War es um 1800 noch die „Intellektuellenkrankheit“ Hypochondrie, welche mit Coca-Tee geheilt werden sollte,143 so waren es nunmehr – im „Zeitalter der Erschöpfung“144 und der „american nervousness“145 – Zustände von „brain exhaustion“146 und „a new form of nervous disease“,147 denen es energisch Einhalt zu gebieten galt. Selbst vor den beschaulicheren Gegenden Europas machte diese „eigenthümliche Erscheinung der Jetztzeit“ nicht Halt.148 Coca und Alkohol ließen sich auch gut mit anderen alkaloidhaltigen Drogen wie Chinarinde, Kolanuss, Tee oder Kakao sowie mit verdauungsfördernden beziehungsweise stärkenden Mitteln wie Glycerophosphat, Bromophosphat, Eisenpeptonat, Pepsin und anderen kombinieren.149 Dadurch konnte ein ganzes Universum an Indikationsgebieten erschlossen werden: Rekonvaleszenz, Schwächezustände, Stoffwechselstörungen, Anämie, Albuminurie, Chlorose, Skrofulose, Tuberkulose, Lymphatismus, Atemwegserkrankungen, Herzbeschwerden, Dyspepsie, Mangelernährung, Menstruationsbeschwerden, Fieber, Seekrankheit, Höhenkrankheit, Migräne, Neuralgien, Neurosen und mehr.

Ab 1880 begann sich in Amerika die Stimmungslage zu Ungunsten des dort höchst erfolgreichen „Vin Mariani“ zu ändern.150 Alkohol und Cocain wurden zunehmend als verwerfliche Rauschdrogen in Frage gestellt. Andere Hersteller reagierten mit der Umstellung auf alkoholfreie und schließlich ab 1906 auf entcocainierte Zubereitungen, womit die Erfolgsgeschichte von Coca Cola151 ihren Anfang nahm.152 Mariani & Co. aber waren von der Qualität ihrer Zubereitung aus dem erlesenen Bordauxwein und den speziellen Cocablättern – der zugesetzte Zucker wurde meist schamhaft verschwiegen – so überzeugt, dass eine Änderung der Vorschriften zunächst nicht in Frage kam. Später sah man sich gezwungen, gleichfalls auf eine entcocainierte Rezeptur umzustellen.153

Überraschend ist, dass bereits im Jahr 1900 bei einer Untersuchung kein Cocain gefunden worden war.154 Heutige Schätzungen gehen davon aus, dass ein Liter Marianiwein etwa 150–300 mg Cocain enthalten haben könnte. Diese eher bescheidene Konzentration dürfte aber bei Konsumation entsprechender Mengen im Zusammenspiel mit Ethanol ausgereicht haben, um die erwünschte Wirkung zu erzielen.155 Noch Anfang des 20. Jahrhunderts war die Liste der Konkurrenten des Marianiweins umfangreich,156 aber die große Zeit der Cocaweine war vorüber. Mariani verstarb 1914, sein Produkt blieb – zumindest ab 1915 als cocainfreie Mixtur und zuletzt unter dem Namen „Tonique Mariani“ – noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts im Handel.157 

Marine Robert-Sterkendries: La santé s´affiche. Brüssel 2003, S. 110

Vin Mariani. Plakat (1894) nach einer Farblithographie von Jules Chéret (1836-1932)



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