DAZ.Spezial - Eine kurze Karriere

Über Coca in der westlichen Medizin

Linz - 04.06.2016, 06:00 Uhr

Cocablätter (Foto: RioPatuca Images / Fotolia) Fotostrecke

Cocablätter (Foto: RioPatuca Images / Fotolia)


Obwohbereits die ersten Entdecker und Eroberer, die Südamerika bereisten, über die Coca berichtet hatten, blieb deren Konsum über Jahrhunderte auf Südamerika beschränkt.1 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts propagierten der ehemalige Jesuit Antonio Julian und der peruanische Mediziner Hipólito Unanue die Einführung der Coca in den westlichen Arzneischatz. Mehrere Naturforscher, die in der ersten Hälfte de19. Jahrhunderts Südamerika erkundet hatten, erwähnten die Coca in ihren Reiseberichten und trugen so zu ihrer Popularisierung bei. Aber es war ein junger italienischer Arzt, dessen Bericht über seine Selbstversuche mit Coca den Beginn des Siegeszuges dieser Pflanze in Europa markiert

Un vero tesoro del Nuovo Mundo

Coca zur Anregung

Der italienische Arzt Paolo Mantegazza (1831–1910),2 der sich zwischen 1854 und 1858 in Südamerika aufhielt, führte eine Serie von Versuchen mit der Coca an sich selbst durch, deren Ergebnisse er in einer preisgekrönten Schrift ausführlich darstellte.3 Niedrige Dosen hätten demnach eine stimulierende Wirkung auf die Magennerven und die Verdauung. Dann würden die Temperatur, der Puls und die Respirationsfrequenz erhöht. Mittlere Dosen stimulierten anfangs das Nervensystem und die Muskulatur. Mantegazza spricht davon, dass es ihm, „der im normalen Zustande jede gymnastische Uebung sorgfältig vermied“, gelang, „mit einer katzenartigen Leichtigkeit und Sicherheit“ auf den Schreibtisch zu springen, bevor ein „sopore beato“ einsetzte. Nach Gabe hoher Dosen beobachtete er Halluzinationen und Delir.

Die Coca besitze also die kostbare Eigenschaft, das Nervensystem anzuregen, so dass man mit seinen Phantasmorgien eine der größten Vergnügungen des Lebens genießen könne, ohne dass die (muskulären) Kräfte dabei geschwächt würden.4 Mit den besorgniserregenden Aspekten seiner Experimente – den psychodysleptischen Grenzerfahrungen, dem beginnenden Kontrollverlust und dem beobachteten Abhängigkeitspotenzial, die Mantegazza in seinem Tagebuch, so er dazu in der Lage war, akribisch dokumentierte und die ihm die Beendigung seiner Versuche ratsam erscheinen ließen,5 wollte er die Leser seiner Abhandlung anscheinend nicht belasten. Denn dieser wahre Schatz der Neuen Welt sei ebenso wertvoll wie das Opium oder die Chinarinde und empfehle sich als kräftiges Analeptikum für eine Vielzahl medizinischer Indikationen: „Gestützt auf diese Erfahrungen und auf den Umstand, dass die Coca bei den Eingeborenen seit uralter Zeit als Heilmittel gegen Dyspepsie, gegen Flatulenz, gegen Coliken namentlich bei Hysterischen in Anwendung kommt, wendet M[antegazza] und mehrere seiner Collegen, sowohl in Südamerika als in Europa (Italien) die Blätter der Coca theils als Kaumittel, theils in Pulverform, als Infusum, als Extractum alcoholico opiosum zu 10–13 Gran, in Pillenform und als Clysma vielfach an. M[antegazza] fand ihre Wirksamkeit bei Verdauung[s]schwäche, bei Gastralgien und Enteralgien ausgezeichnet; nicht minder benutzte er sie häufig in den Fällen von namhafter Schwäche (bei Reconvalescenten vom Typhus, Scorbut, anämischen Zuständen, etc.), in der Hysterie, Hypochondrie, selbst wenn letztere den höchsten Grad bis zum Lebensüberdrusse erreicht hatte. Auch in Geisteskrankheiten, in denen von einzelnen Psychiatern das Opium als heilbringend verkündet wird, dürfte die Coca Erspriessliches leisten. Von der calmirenden Wirksamkeit derselben bei einfacher Spinalirritation, bei idiopathischen Convulsionen, bei Erethismus in der sensiblen Sphäre hat sich der Verf[asser] überzeugt. Er schlägt ihren Gebrauch in höchster Dosis für Fälle von Hydrophobie und Tetanus vor. Bei den Laien steht die Coca auch im Rufe eines verlässlichen Aphrodisiacum“.6

Mit dieser opulenten Liste an Indikationen knüpft Mantegazzas Schrift gleichsam an die Tradition der mittelalterlichen Wundertraktate an.7 Ein Hinweis Mantegazzas im Zusammenhang mit der Verwendung von Coca in Form von Zahnmitteln und Mundwässern deutet bereits in Richtung jener Entdeckung, mit der der Wiener Augenarzt Karl Koller 1884 für Aufsehen sorgen sollte: „ne posso ancor dire se le sue diverse preparazioni potrebbero agire come narcotizzanti applicate sulla pelle o le prime vie delle mucose“.8 Die Idee einer narkotisierenden Wirkung von Zubereitungen der Coca auf Haut und Schleimhaut war also bereits in greifbare Nähe gerückt. Und Mantegazzas Aufruf, Kollegen mögen „diese so merkwürdige und gewiss leicht in den Handel zu setzende Pflanze“ weiteren physiologischen und therapeutischen Versuchen unterziehen, zeigt, dass die Coca zwar spät, aber dennoch die Sphäre der westlichen Medizin erreicht hatte. Denn noch um 1855 war die Coca in Europa kaum bekannt9 und ihre Einführung in den europäischen Arzneischatz stand noch aus.10 Nunmehr aber verdiene sie es, „somit in unseren Apotheken eingebürgert zu werden als das vorzüglichste specifische Stomachicum“, denn es gelte „Coca stomacho amica“.11 Wie wenig die Medizin in Nordamerika um 1860 mit der Coca vertraut war, belegt die Tatsache, dass man selbst in Fachkreisen dezidiert auf die Möglichkeit einer Verwechslung von Coca mit anderen Naturprodukten mit ähnlich klingenden Namen wie cocoa (Kakao) und coco (Kokosnuss) hinweisen musste.12 Und noch 1874 schrieb ein britischer Arzt, er habe bereits 1859 von den Untersuchungen Mantegazzas gelesen, aber bislang noch keinen Kollegen kennengelernt, der die Coca selbst eingesetzt hätte. Nunmehr sei er aber im Besitz einer ersten Lieferung dieses vielversprechenden Mittels.13

Militär-Zeitung 39 (1886) Nr. 2 vom 5. Jänner 1886, S. 12

Cocain-Sect - ein equisiter Liqueur aus der Cocapflanze



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