Barmer GEK Arzneimittelreport 2012

Frauen leiden an der Psyche

Berlin - 26.06.2012, 14:48 Uhr


Frauen bekommen deutlich mehr Psychopharmaka verordnet als Männer. So gehen drei Viertel der Antidepressiva-Verordnungen an Frauen, fast ebenso hoch ist der Anteil bei den Serotonin-Wiederaufnahmehemmern und bei Tranquilizern. Dies geht aus dem aktuellen Arzneimittelreport der Barmer GEK hervor, der heute in Berlin vorgestellt wurde. Eine befriedigende Erklärung für dieses Phänomen gibt es nicht.

Auch in diesem Jahr haben Professor Gerd Glaeske und Dr. Christel Schicktanz vom Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen für die Barmer GEK Arzneimittel-Verordnungsdaten ausgewertet. Diesmal legten sie einen Schwerpunkt auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Arzneimittelversorgung – schließlich sind fast 60 Prozent der Barmer GEK-Versicherten weiblich. Das kurz gefasste Fazit: Frauen leiden an der Psyche, Männer am Körper – mit der wahren Verteilung dieser Erkrankungen haben die blanken Verordnungsdaten allerdings nicht viel zu tun.

Geht man allein nach den Verordnungen – also nach Packungszahlen –, so haben Frauen die Nase vorn: Auf 100 Frauen entfielen 2011 durchschnittlich 937 Verordnungen im Jahr. Damit liegen sie 22,3 Prozent über den Männern, die je 100 auf 763 Verordnungen kamen (Durchschnitt: 864). Betrachtet man jedoch die Verordnungsdosen (DDD), so liegen die Männer vorne: 2011 bekamen sie im Schnitt 486 Dosierungen, Frauen 540. Noch vor zehn Jahren erhielten Frauen 441 Tagesdosierungen, Männer hingegen nur 295. Glaeske erklärt diesen Umschwung anderem damit, dass seit 2004 nicht-rezeptpflichtige Arzneimittel wie Venenmittel oder pflanzliche Mittel gegen Zyklusstörungen nicht mehr erstattet werden. Außerdem wirke sich der Rückgang von verordneten Hormonpräparaten gegen Wechseljahresbeschwerden aus. Bei den Arzneimittelkosten sieht der Unterschied bei den Geschlechtern nochmals anders aus: Auf 100 Männer entfielen im letzten Jahr 41.100 Euro, auf 100 Frauen 44.900 Euro.

Betrachtet man die konkreten Verordnungen, so fällt auf, dass auf Frauen knapp 63 Prozent aller Beta-Blocker-Verordnungen fallen. Diese auch zur Migräne-Prophylaxe angewendeten Arzneimittel wirkten bei Frauen stärker als bei Männern, betonte Glaeske. Damit führten sie auch schneller zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen. Es sind aber vor allem Antidepressiva, Tranquilizer und Schlafmittel, die Frauen deutlich häufiger einnehmen als Männer. Dabei, so Glaeske, hätten nur rund die Hälfte der Frauen, die Antidepressiva bekommen, auch eine entsprechende Indikation. Vielfach kämen diese Arzneimittel offenbar schon bei Befindlichkeitsstörungen im Alltag zum Einsatz. Erklärungen für dieses Phänomen sind nicht leicht zu finden. Glaeske vermutet, das Frauen beim Arzt generell eher über ihre Gefühle und Sorgen sprechen als Männer. Dies sei grundsätzlich nicht falsch – doch dies führe offenbar dazu, dass Mediziner schnell zum Rezeptblock griffen statt beispielsweise über Beratungsangebote zu informieren. Diese Beratungsstellen, so Glaeske, würden es auch begrüßen, wenn die Menschen zu ihnen kämen, ehe sie eine Sucht aufweisen. Denn diese auf die Psyche wirkenden Substanzen haben nicht nur oft Nebenwirkungen – vielfach führen sie auch in die Abhängigkeit. Dies dürfte den meisten Ärzten und Patientinnen auch bewusst sein: Die Mehrzahl der Benzodiazepin-Verordnungen – Glaeske spricht von 50 bis 60 Prozent – läuft bereits über Privatrezept.

Glaeske fordert angesichts dieser Feststellungen die Erarbeitung einer Arzneimittelliste mit für Frauen kritischen Arzneimitteln. Vorbild könne die Priscus-Liste sein, die für ältere Patienten potenziell gefährliche Arzneimittel benennt. Vielfach dürfte es hier Überschneidungen geben.


Kirsten Sucker-Sket