Stammzellforschung

Das Gehirn in der Kulturschale

Bonn - 20.12.2011, 12:20 Uhr


Wissenschaftler der Universität Bonn haben Hautzellen von Patienten mit einer erblichen Bewegungsstörung in sogenannte induziert pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) reprogrammiert und daraus funktionierende Nervenzellen gewonnen. Daran entschlüsselten sie, wie die Krankheit entsteht.

Im Zentrum der aktuellen Bonner Studie steht die sogenannte Machado-Joseph-Erkrankung. Dabei handelt es sich um eine Störung der Bewegungskoordination, die ursprünglich bei portugiesischstämmigen Bewohnern der Azoren beschrieben wurde und heute die häufigste dominant vererbte Kleinhirn-Ataxie in Deutschland darstellt. Die Mehrzahl der Patienten entwickelt zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr Gangstörungen und eine Reihe anderer neurologischer Symptome.

Ursache der Erkrankung ist eine sich wiederholende Erbgutsequenz im Ataxin-3-Gen, die zur Verklumpung des entsprechenden Proteins führt, wodurch schließlich die Nervenzellen im Gehirn geschädigt werden. Unklar war bislang, warum die Erkrankung nur Nervenzellen betrifft und wie die abnorme Proteinverklumpung ausgelöst wird.

Um den Krankheitsprozess auf molekularer Ebene zu studieren, stellten Wissenschaftler um den Stammzellforscher Prof. Dr. Oliver Brüstle aus Bonn zunächst aus kleinen Hautproben von Patienten sogenannte induziert pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) her. Es handelt sich dabei um Zellen, die in ein sehr frühes, undifferenziertes Stadium zurückversetzt werden. Diese „Alleskönner“ lassen sich – einmal gewonnen – nahezu uneingeschränkt vermehren und in alle Körperzellen ausreifen. In einem nächsten Schritt wandelten die Wissenschaftler die iPS-Zellen in Gehirnstammzellen um, aus denen sie dann beliebig Nervenzellen für ihre Untersuchungen entwickeln konnten.

Das Besondere: Da die Nervenzellen aus den Patienten selbst stammen, tragen sie dieselben genetischen Veränderungen und können so als zelluläres Modell der Erkrankung dienen. Diese Methode erlaubt die Erforschung der Erkrankung an den wirklich betroffenen Zellen, zu denen man sonst keinen Zugang hätte. „Das ist fast so, als hätten wir das Gehirn des Patienten in die Zellkulturschale gebracht“, so die Forscher.

Die Forscher stimulierten elektrisch die künstlich geschaffenen Nervenzellen. Dabei konnten sie zeigen, dass die Bildung der Proteinaggregate unmittelbar mit der elektrischen Aktivität der Nervenzellen zusammenhängt. Eine Schlüsselrolle spielt dabei das Enzym Calpain, das durch den erhöhten Calciumgehalt stimulierter Nervenzellen aktiviert wird. Dieser neu identifizierte Mechanismus erklärt, warum die Erkrankung ausschließlich Nervenzellen betrifft.

In einem nächsten Schritt wollen die Forscher reprogrammierte Nervenzellen für die Entwicklung von Wirkstoffen zur Behandlung neurologischer Erkrankungen einsetzen.

Literaur: Koch, P., et al.: Nature 2011; Online-Publikation: doi:10.1038/nature10671 


Dr. Bettina Hellwig