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Wenn Gesundheit zur Ware, Patienten zu Kunden werden

Berlin - 22.07.2011, 10:37 Uhr


Der Medizinhistoriker Prof. Dr. Paul U. Unschuld, Direktor des Horst-Görtz-Stiftungsinstituts, Charité Berlin, sieht sich als Zeitzeuge eines Umbruchs im Gesundheitswesen, den es so noch nie gegeben hat.

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Im Rahmen des DAZ-Zukunftskongresses zum 150-jährigen DAZ-Jubiläum untermauerte Unschuld diese These, nach der Gesundheit zur Ware, Patienten zu Kunden und Ärzte zu Handlangern werden.

Unschuld beobachtet einen Prozess der Deprofessionalisierung im Gesundheitswesen, den er am Beispiel der Ärzte erläuterte. Professionalisierung bedeute den Übergang einer Berufsgruppe aus einem Status, in dem sie ihr Wissen und Weisungen von anderen empfängt, in die Selbstständigkeit, in der sie ihr Wissen und deren Anwendung selber bestimmt.

Was wir heute in Europa erleben, sei das Ende einer Phase, die Ende des 18. Jahrhunderts begonnen habe, so Unschuld. Damals bildeten sich Nationalstaaten heraus, in denen der Staat ein existenzielles Interesse an einem gesunden Bürger hatte. Er benötigte ihn für seine Manufakturen und für die Industrialisierung, um konkurrenzfähig zu bleiben und er benötigte ihn für seine Volksheere. Der starke Staat war der gesunde Staat. Gesundheit, besser gesagt die Volksgesundheit, wurde Mittel zum Zweck. Nur in Europa sei daraus ein Mandat an die Ärzteschaft und auch die Apotheker erwachsen. Doch der Volksgesundheitsgedanke habe leider in Deutschland zur endgültigen Katastrophe beigetragen.

Heute haben wir, so Unschuld, eine völlig neue Situation. Gesundheit ist wieder zum Selbstzweck geworden. Sie liegt nicht mehr im Interesse der Politik. Wer gesund bleiben will, müsse sich selber darum kümmern. Statt von Volksgesundheit spreche man nun von Public health, was jedoch nur eine Nebensache sei.

Aus dem Gesundheitswesen sei eine eigene Marktwirtschaft geworden, in der neue Akteure in den Entscheidungszentren sitzen. Ärzte und Apotheker würden jedoch nach wie vor ausgebildet, ihre Patienten fachlich und ethisch zu behandeln und zu beraten. Da in der Gesundheitswirtschaft jedoch Renditedenken gefragt sei, würden sowohl Ärzte als auch Apotheker an den Rand des Gesundheitswesens gedrängt. Die Gesetzlichen Krankenkassen hätten ihre ursprüngliche Rolle als Mittler zwischen Beitragszahlern und Heilkundigen aufgegeben und seien inzwischen eigenständig operierende Agenten, die einen nicht unerheblichen Teil der über die Pflichtbeiträge eingezahlten Gelder für ihre Eigeninteressen zurückbehalten. Auf diese Weise erhalte zunächst Sinnvolles eine fragwürdige Absurdität, so zum Beispiel der Gesundheitsfonds mit Morbiditäts-Risiko-Strukturausgleich (Morbi-RSA), der die GKV ermuntere, ihre Patienten möglichst krank aussehen zu lassen. Er habe zu einem "zielgerichteten Verkranken der Versicherten" geführt.

Medizin werde zum Konsumgut. Private Investoren hätten den wachsenden Gesundheitsmarkt entdeckt. Das habe weitreichende Folgen. Ärzte und Apotheker, so Unschuld, würden zunehmend das Sagen verlieren. Sie würden aus dem Zentrum der Entscheidungen, was mit dem Patienten geschieht, verdrängt zugunsten neuer Entscheidungsträger. Die Abschaffung des unabhängigen Apothekers sei nur eine von selbstverständlichen Konsequenzen. Ebenso zwangsläufig ist nach Unschulds Ansicht die Forderung nach Apothekenketten. Der Preis, der von der Gesellschaft in einer Gesundheitswirtschaft zu zahlen sei, sei der Verlust des Vertrauens, ein Vertrauen, das es in anderen Volkswirtschaften, beispielsweise in China, nie gegeben habe. Es gebe keine Gewissheit mehr, dass der Arzt, die Kliniken oder der Staat den Kriterien bester medizinischer Versorgung folgen. Für Unschuld ist eine Epoche beendet.


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