Ein Rückblick auf das Jahr 2014

Vom Leitbild zum Perspektivpapier

30.12.2014, 08:00 Uhr


Für die deutschen Apotheker stand das Jahr 2014 ganz im Zeichen der Leitbild-Diskussion, die aber am Ende gar kein neues Leitbild hervorbrachte. Stattdessen wurde es ein Perspektivpapier, das unter dem Titel ­„Apotheke 2030 – Perspektiven zur pharmazeutischen Versorgung in Deutschland“ vom Deutschen Apothekertag am 18. September 2014 mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde. Dieser Abstimmung ging ein intensiver, nicht immer pannenfreier und durchaus ­kontroverser Prozess voraus.


Nachdem bereits das Jahr 2013 von der Debatte über die Zukunft des Apothekerberufs und der Institution Apotheke in Deutschland geprägt war – einen kompakten Überblick darüber gibt der DAZ-Jahresrückblick 2013 (DAZ 2013, Nr. 52) – ging es 2014 darum, den Diskussionsprozess so zu gestalten, dass er am Ende ein greifbares Ergebnis hervorbringen konnte. Dazu hatten sich die Verantwortlichen in der Berliner Jägerstraße folgendes Konzept ausgedacht: Nach einer offenen Diskussion im Internet sollte ein „Konvent“ mit Abgesandten aller ABDA-Mitgliedsorganisationen aus dieser Diskussion einen ersten Leitbild-Entwurf destillieren. Dieser Entwurf sollte anschließend wieder online diskutiert, wenn nötig überarbeitet und dann von der Apothekerschaft verabschiedet werden.

Schleppender Start ...

Am Samstag, den 1. Februar startet die von der ABDA eingerichtete Internet-Diskussionsplattform www.leitbildprozess.de, auf der die deutschen Apothekerinnen und Apotheker einen Fragebogen ausfüllen und ihre Ideen und Anregungen zu sechs Themenfeldern einbringen können. Der Start der Plattform läuft allerdings nicht ganz reibungslos: Jede Apothekerin, jeder Apotheker hatte im Vorfeld Zugangsdaten zugeschickt bekommen, die beim ersten Anmelden durch einen selbstgewählten Nutzernamen und ein Passwort ersetzt werden sollen. Doch am Montag, den 3. Februar können sich etliche Nutzer nicht mehr anmelden und müssen bei ihrer Apothekerkammer neue Zugangsdaten beantragen – um anschließend festzustellen, dass auch die bis dahin abgegebenen Kommentare verschwunden sind. Grund für diese Schwierigkeiten: Beim Einspielen eines Updates am Montagmorgen war es zu einer technischen Panne gekommen (DAZ 6, S. 15).
Wohl auch wegen dieser Panne läuft die Diskussion anfangs eher schleppend. Nur drei Wochen hatte die ABDA für diese erste Phase des Prozesses vorgesehen – zu kurz, finden viele. Ein weiterer Kritikpunkt: Die Online-Diskussion findet nur unter Mitgliedern des selben Kammerbezirks statt. Apotheker aus Nordrhein können nicht sehen und kommentieren, was die Kollegen aus Westfalen-Lippe schreiben. Mathias Arnold, als ABDA-Vize für den Leitbild-Prozess verantwortlich, erklärt diese Entscheidung mit datenschutzrecht­lichen Bedenken einiger Landesapothekerkammern gegen eine Weitergabe ihrer Mitgliederdaten. Auch BAK-Präsident Andreas Kiefer verteidigt die regional begrenzte Diskussion am Rande des Pharmacon Davos: Die ABDA sei eben föderal organisiert, das spiegele sich in der Struktur des Diskussionsprozesses wider (AZ 8, S. 1).

... und viel Kritik

Von Anfang an wird der organisierte Leitbildprozess von Kritik und Protesten begleitet. Nicht nur von der apothekerlichen Basis und den „Protestapothekern“, sondern auch von (ehemaligen) Kammer- und Verbandsfunktionären. So bezeichnen der stellvertretende Vorsitzende des Hessischen Apothekerverbands, Hans-Rudolf Diefenbach, und der ehemalige Vorsitzende des AV Niedersachsen, Uwe Hansmann, die gesamte Debatte als „totalen Rohrkrepierer“. Der Präsident der brandenburgischen Kammer Jens Dobbert tituliert die regionale Begrenzung der Diskussion als „Schwachsinn“. Den Fragebogen will er erst gar nicht ausfüllen, da er in ihm den Berufsalltag in der Apotheke nicht wiederfinde (AZ 8, S. 3). Der Vorsitzende des AV Westfalen-Lippe, Klaus ­Michels, fordert eine Diskussion „ohne Scheuklappen“. Vor allem müsse auch die wirtschaftliche Situation der Apotheken diskutiert werden. „Was nützt uns der schöne Heilberuf, wenn wir dessen ökonomische Basis auszuklammern versuchen“ (DAZ 8, S. 16).
Nach drei Wochen wird die Online-Diskussion beendet, nun werden die Fragebögen und abgegebenen Kommentare ausgewertet – wiederum auf Länderebene, von eigens gegründeten Leitbild-Arbeitsgruppen, die die einzelnen Themenfelder strukturiert bearbeiten sollen (DAZ 8, S. 15). Währenddessen herrscht Funkstille, über Ergebnisse oder Trends wird nichts bekannt. Auch deswegen startet die DAZ im März eine eigene Befragung mit zwei Fragen zur Zukunft des Berufsstandes. Vor allem die Vorsitzenden und Präsidenten der Kammern und Verbände werden angeschrieben, denn diese hatten sich an der vorhergehenden Online-Diskussion nicht beteiligt. Acht (von immerhin 34 angeschriebenen Organisationen) nahmen sich die Zeit zu antworten. Das Ergebnis: Die Mehrheit der Befragten findet, dass ein vielfältiges Angebot an Dienstleistungen und Waren rund um die Gesundheit eine mögliche Ausrichtung für Apotheken sein könne. Das Medikationsmanagement sieht die große Mehrheit als Zukunftsperspektive für die Apotheke. Die Frage bleibt dabei, ob eine Einführung schon sinnvoll ist, bevor die Honorierungsfrage geklärt ist (DAZ 13, S. 24).

 

Der Konvent tagt

Am 7. und 8. April tagt dann in Berlin der „Leitbild-Konvent“ mit rund 100 Teilnehmern (bis zu drei Vertreter der ­
34 ABDA-Mitgliedsorganisationen, die Mitglieder der ABDA-Leitbild-AG sowie Präsident, Vizepräsident und Geschäftsführung der ABDA sowie Vertreter der Studierenden). Sechs moderierte Arbeitsgruppen diskutieren die Ergebnisse der sechs Themenfelder des Online-Prozesses: Der Patient in der Apotheke, die Rolle der Apotheke, Leistungen der Apotheke, die Apotheke im Netzwerk mit anderen Heilberufen, das Team in der Apotheke und die Apotheke zwischen Versorgungsauftrag und Unternehmertum. Einzelheiten oder gar Ergebnisse des Konvents werden nicht bekanntgegeben. ABDA-Präsident Schmidt spricht davon, dass das Leitbild „langsam Konturen annimmt“ (DAZ 15, S. 14).
Während alle (Apotheker-)Welt auf die Ergebnisse des Konvents wartet, melden sich immer wieder Apothekerinnen und Apotheker mit ihren Ansichten zum neuen Leitbild und zur Zukunft des Apothekerberufs zu Wort. Beispielsweise die Berliner Apothekerin Kerstin Kemmritz, die zuerst einmal eine profunde Analyse der heutigen Situation fordert, bevor man zu neuen Häfen aufbreche (DAZ 17, S. 24).
Anfang Mai wird er dann veröffentlicht, der Entwurf für das neue Leitbild. Es sei ein Entwurf, „der viele positive Ansätze enthält“, ziehen DAZ-Herausgeber Peter Ditzel und DAZ-Chefredakteur Benjamin Wessinger eine erste Bilanz. Ihnen fehlen aber auch wichtige Aspekte, beispielsweise die Rolle der Apotheker bei der Selbstmedikation oder Lösungsansätze für den alten Konflikt zwischen Kaufmann und Heilberuf. Doch insgesamt fällt das Fazit vorsichtig positiv aus: „Mit einigen Nachbesserungen und Ergänzungen kann aus diesem Leitbild die Richtung für einen modernen Apothekerberuf entstehen, der heilberuflich und wirtschaftlich gut aufgestellt ist und den die Gesellschaft braucht“ (DAZ 19, S. 18). Auch die Deutsche Pharmazeutische Gesellschaft (DPhG) begrüßt in einer Stellungnahme den Entwurf, der – wieder auf leitbildprozess.de – nun für zwei Wochen zur Diskussion gestellt wird. In dieser zweiten Phase der Diskussion werden gut 900 Kommentare zum Entwurf abgegeben (DAZ 20, S. 22). Doch die Kritik am Leitbildprozess verstummt nicht. Der Berliner Apotheker Wolfgang Müller fordert in einem Meinungsbeitrag ein neues Leitbild für die ABDA – statt für die Apotheke (DAZ 20, S. 24).



Der Entwurf steht

Im Juni dann ist es so weit: Der finale Entwurf, um die Anregungen und Kommentare der zweiten Diskussionsrunde ergänzt, wird veröffentlicht. Die große Überraschung: Aus dem Leitbild ist ein Perspektivpapier geworden. Auffallend auch: viele sprachliche Ungenauigkeiten sind verschwunden, der Entwurf wirkt nun straffer. Weiterhin ist das Papier von dem Grundgedanken getragen, dass der Patient und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt allen apothekerlichen Tuns stehen – und nicht das Arzneimittel. Dabei geht das Papier vom mündigen und informierten Patienten aus, folgerichtig müssten sich Beratung und Betreuung nach seinen Bedürfnissen richten. Dabei soll die Versorgung „individuell und grundsätzlich evidenzbasiert sein“. Das Perspektivpapier betont den heilberuflichen Auftrag, die Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsberufen im „therapeutischen Team“, den Stellenwert der Selbstverwaltung und mehrfach die Unabhängigkeit von Interessen Dritter – ohne dabei die unabdingbaren Voraussetzungen für all dies zu verschweigen: auskömmliche wirtschaftliche Verhältnisse. Am 25. Juni dann beschließt die ABDA-Mitgliederversammlung in Berlin das Perspektivpapier „Apotheke 2030“ (DAZ 24, S. 11).
ABDA-Präsident Friedemann Schmidt erklärt im DAZ-Interview im August, wie es dazu kam, dass das „Perspektiv­papier“ das „Leitbild“ abgelöst hatte: „Leitbild ist ein Kodex, sind Gebote. Der Begriff passte dann nicht mehr zum Ergebnis. Wir beschreiben jetzt einen Prozess zur Apotheke 2030.“ Man habe das Bild einer modernen Apotheke gezeichnet (DAZ 34, S. 19).



Mit überwältigender Mehrheit

Und dann ist es so weit: am 18. September 2014 gegen 10 Uhr verabschieden die Delegierten des Deutschen Apothekertags in München mit übergroßer Mehrheit das Perspektivpapier „Apotheke 2030“ – nur fünf der rund 400 Delegierten stimmen gegen den Entwurf, zwölf enthalten sich. Damit beenden die Delegierten erfolgreich den ersten Abschnitt des Leitbildprozesses, der ein Jahr zuvor auf dem Deutschen Apothekertag in Düsseldorf begonnen hatte.
Direkt im Anschluss an die Abstimmung beginnt der zweite Abschnitt, die Diskussion über die richtige Umsetzung der gerade beschlossenen Ziele. Wie soll das Medikationsmanagement praktisch aussehen? Wie soll es in den Apotheken eingeführt werden? Und sollen es alle Apotheken anbieten können oder sogar müssen? Darüber diskutierten in München Mathias Arnold und der Präsident der Thüringer Landesapothekerkammer Stefan Fink mit dem als Apothekenkritiker bekannten Bremer Professor Gerd Glaeske. Den richtigen Strukturen der zukünftigen Versorgung widmet sich eine Diskussionsrunde mit dem ehemaligen Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Andreas Köhler, Peter Froese (AV Schleswig Holstein) und Hans-Peter Hubmann (Bayerischer AV). Dabei wird klar, dass sich die Apotheker auf Gegenwind aus Reihen der Ärzte einstellen müssen, wenn die das Gefühl bekommen, dass die Apotheker in ihren Gefilden „wildern“ wollen. Auch die Frage der notwendigen Qualifikation der Apotheker wird ausgiebig diskutiert. Prof. Hartmut Derendorf von der University of Florida in Gainesville kam nach München, um mit ABDA-Präsident Friedemann Schmidt und dem bayerischen Kammerpräsidenten Thomas Benkert zu besprechen, ob man die Apothekerausbildung „auf einem weißen Blatt Papier“ völlig neu entwerfen muss oder ob das heutige Studium weiterentwickelt werden soll (DAZ 39, ab S. 49).

Wie geht es weiter?

Wie es mit der Verwirklichung der im Perspektivpapier niedergeschriebenen Ziele weitergeht, wird das Jahr 2015 zeigen. ABDA-Präsident Friedemann Schmidt lässt im Herbst 2014 jedenfalls keinen Zweifel daran, dass er die Umsetzung vorantreiben will. Man habe sieben Handlungsfelder definiert, auf denen das Perspektivpapier umgesetzt werden müsse: neue und verbesserte Leistungen der Apotheke, das heilberufliche Netzwerk, Pharmakovigilanz, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, Qualifikation, flächendeckende Versorgung sowie die Sicherung des Freien Berufs. Bei jedem Treffen des ABDA-Vorstands würden die Fortschritte auf jedem dieser Felder berichtet, erklärte er auf der Delegiertenversammlung der Bayerischen Landesapothekerkammer im November in München. Denn das schlimmste, was dem Perspektivpapier passieren könne sei, dass es nur abgeheftet werde, „und vielleicht wird noch das Titelblatt ausgedruckt und an die Wand gehängt“ (DAZ 48, S. 80). 

Streit um das Studium
Auch die Auswirkungen der Leitbilddebatte auf die Ausbildung zukünftiger Apothekergenerationen und damit auch auf die Hochschul-Pharmazie sind 2014 immer wieder ein Thema. Bereits im Januar meldet sich Prof. Dieter Steinhilber als Präsident der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG), die an einem Konzept namens „Pharmazie 2020“ arbeitet, im DAZ-Interview zu Wort. Schon dabei deutet sich an, was im Laufe des Jahres immer deutlicher wird: Die Veränderung der Apotheker-Ausbildung wird nicht ohne Widerstand der Hochschulen vonstatten gehen. Die größten Defizite sieht Steinhilber nicht in den Studieninhalten der Universitäten, sondern in deren Umsetzung in die Apothekenpraxis. Diese zu vermitteln sei Aufgabe des Dritten Ausbildungsabschnitts, für den aber nicht die Hochschulen verantwortlich sind, sondern die Apothekerkammern (DAZ 5, S. 22).
Auf dem Apothekertag im September wird die Notwendigkeit, die Approbationsordnung grundlegend zu überarbeiten, eigentlich sofort nach der Verabschiedung des Perspektivpapiers mehr als deutlich. Professor Derendorf aus Florida berichtet davon, wie die US-Apotheker durch eine neue Ausbildung, die sie „auf dem weißen Blatt Papier“ entwarfen, den Grundstein für eine Generalüberholung ihres Berufs legten (DAZ 39, S. 50). Sein „Schüler“ Olaf Rose, Autor der POP-Reihe in der DAZ, haut in dieselbe Kerbe: Durch eine neue Approbationsordnung könne auch in Deutschland das Ansehen des Apothekerberufs wieder deutlich steigen, auch und gerade bei den Pharmaziestudenten, die heute in erschreckender Zahl angeben, später nicht in der Offizin arbeiten zu wollen (DAZ 40, S. 18).
ABDA-Präsident Friedemann Schmidt macht deutlich, dass er vor dem Widerstand der Hochschulpharmazie nicht zurückweichen wird. „Ich werde alles dafür tun, die Universitätsausbildung zu reformieren“, erklärt er beispielsweise bei der bayerischen Kammerversammlung im November. Die Ausbildung müsse viel stärkeren Bezug auf die öffentliche Apotheke und die Versorgung von ­Patienten nehmen. Die Pharmazie sei zwar eine Wissenschaft, doch den Professoren müsse klar sein, dass sie nur existiere, weil es Apotheker gibt, die Patienten versorgen (DAZ 48, S. 80).

Dieser Artikel ist dem DAZ-Jahresrückblick, DAZ Nr. 52, S. 6, entnommen. Der Jahresrückblick lag der DAZ Nr. 51 bei und ist ein Service für unsere Abonnenten.


Dr. Benjamin Wessinger


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