Thalidomid

Gefahr erkannt, aber nicht gebannt

Remagen - 17.10.2014, 15:19 Uhr


Ein neuer Bericht der WHO fordert eine klarere und bessere Diagnose von Geburtsschäden, die durch Thalidomid verursacht werden. In den 1960er Jahren als Mittel für Schwangere gegen morgendliche Übelkeit verschrieben, war das Medikament nach einer Epidemie von Geburtsschäden in ganz Europa verboten worden. Basierend auf neuen Forschungsergebnissen wird Thalidomid heute zur Behandlung von Hautveränderungen im Zusammenhang mit Lepra und bestimmten Krebsarten und Autoimmunerkrankungen eingesetzt.

Obwohl seit der Katastrophe mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen ist, ist das Risiko wieder lebendig, befürchtet die WHO. Und zwar vor allem durch die zunehmende Verfügbarkeit von Thalidomid und seine Verwendung in Ländern mit einer begrenzten Arzneimittelregulierung und schlechter gesundheitlicher Aufklärung. Jüngere Fälle von fetalen Fehlbildungen in Brasilien, wo der Wirkstoff breit gegen Lepra eingesetzt wird, aber auch aus anderen Ländern lassen nun erneut die Alarmglocken läuten.

Aber ist Thalidomid in solchen Fällen wirklich immer Schuld? Einige der Geburtsfehler könnten durchaus auch durch andere angeborene Defekte, auf genetische Ursachen, auf andere Arzneimittel oder Faktoren bei der Mutter zurückzuführen sein, meinen die Wissenschaftler. Viele der Fälle seien im Laufe der Jahre nicht ordnungsgemäß dokumentiert worden. Die Feststellung der Kausalität sei deshalb problematisch. Außerdem sei nicht ganz klar, wie Thalidomid eine so verheerende Wirkung auf den Fötus ausübt. Diejenigen Geburtsfehler zu bestimmen, die definitiv auf den Wirkstoff zurückzuführen sind, soll nun weiteren Aufschluss über den Mechanismus der Wirkung liefern.

Nach umfangreichen Beratungen mit dem britischen Thalidomid Trust, der WHO und dem Uppsala Monitoring Centre haben Experten jetzt einige wichtige Maßnahmen identifiziert, um standardisierte Kriterien für die Diagnose der Missbildungen zu entwickeln. Ein Kernelement dieser Maßnahmen ist ein diagnostischer Algorithmus, den ein Team von der St. George University of London, UK, entwickelt hat. Es wird derzeit an Fällen mit einer klaren Thalidomid-Exposition getestet.

„Es ist besonders wichtig, dass wir mehr Vertrauen in die Beurteilung der Kausalität gewinnen, ein kontroverser und seit Jahrzehnten vernachlässigter Bereich. Dazu haben wir jetzt eine Agenda von Maßnahmen,“ erklärte Prof. Ralph Edwards vom WHO Drug Monitoring Centre in Uppsala, Schweden. Und Shanthi Pal, Manager im Arzneimittelsicherheits-Programm der WHO, meint: „Der Bericht wird nicht nur die Diagnose von Thalidomid-Embryopathien stützen, sondern auch als Modell für die Diagnose anderer Arten von Arzneimittel-Embryopathien dienen.“


Dr. Helga Blasius