Jahrbuch Sucht 2010

Medikamentenabhängigkeit: Noch immer oft verkannt

Berlin - 07.04.2010, 13:50 Uhr


Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) legt auch in ihrem aktuellen Jahrbuch Sucht 2010 ein besonderes Augenmerk auf Medikamente mit Suchtpotenzial. Obwohl bekannt ist, dass Medikamentenabhängigkeit vor allem bei älteren Menschen verbreitet ist, mangelt es weiterhin an validen Daten.

Bei Ärzten und Apothekern ist das Problem durchaus bekannt. Beide Berufsgruppen haben sich in den vergangenen Jahren Leitfäden zum Umgang mit suchterzeugenden Substanzen und Medikamentenabhängigkeit erstellt. Doch noch immer bleibt die Arzneimittelsucht oft im Verborgenen, an validen Daten mangelt es. Bislang sind es lediglich Schätzungen, die für Alarm sorgen: So heißt es bei der DHS, dass 1,4 Millionen Menschen in Deutschland von Medikamenten mit Suchtpotenzial abhängig sind – 1,1 bis 1,2 Millionen von Benzodiazepinderivaten, weitere 300.000 bis 400.0000 Menschen von anderen Arzneimitteln. Zudem sollen 1,7 bis 2,8 Millionen der über 60-Jährigen einen problematischen Gebrauch psychoaktiver Medikamente bzw. von Schmerzmitteln aufweisen – auch hier könne oft von einer Abhängigkeit gesprochen werden. In Altenheimen wird der Anteil der von Psychopharmaka abhängigen Bewohner über 70 Jahre auf mindestens 25 Prozent geschätzt.

Die DHS weist darauf hin, dass der Übergang von der medikamentösen Einnahme aus medizinischen Gründen hin zur dauerhaften missbräuchlichen Einnahme oft fließend sei und häufig unbewusst erfolge. Ein Problem sei auch, dass viele ältere Patienten unterschiedliche Fachärzte aufsuchen, die verschiedene Arzneimittel verordnen, die nicht immer zueinanderpassen. Hinzu kämen noch Privatrezepte. Die Folgen sind beträchtlich: So ziehe die Abhängigkeit von Benzodiazepinen im Alter zieht ein um 66 Prozent erhöhtes Sturzrisiko durch Schwindel und Gangunsicherheit nach sich. Allein für Altenpflegeheime wird von jährlich einer Million Stürzen ausgegangen. Die gesundheitlichen Konsequenzen und die Folgekosten für das Gesundheitswesen sind beträchtlich. Aber auch ohne Sturz kann die erforderliche Versorgungs- und Pflegeintensität im Fall einer Überdosierung von Benzodiazepinen deutlich ansteigen. Durch „Schlafmittel-Hangover“ in der morgendlichen Versorgung fällt der Unterstützungsbedarf deutlich höher aus, Bewegungsabläufe und Reaktionen sind verlangsamt.

Die DHS fordert daher, bestehende Qualifikations- und Kompetenzdefizite bei (Haus-)Ärzten zu beheben. Dafür müsse die Bundesärztekammer sorgen. Das gleiche gelte für Pflegekräfte, für die sich die verantwortlichen Einrichtungsträger sowie durch entsprechende Ausbildungsinstitutionen engagieren müssten. Zudem seien ältere Menschen und deren Angehörige durch öffentlichkeitswirksame Kampagnen über Risiken und Folgen einer Medikamentenabhängigkeit durch Benzodiazepine aufzuklären. Zur Unterstützung der Pflegeeinrichtungen fordert die DHS eindeutige Handlungskonzepte zum Umgang mit Abhängigkeit erzeugenden Arzneimitteln. Nötig sei zudem, nichtmedikamentöse Interventionskonzepte zur Senkung der Medikamentengaben zu erstellen und zu verbreiten. Dabei müsse darum gehen, den Missbrauch psychoaktiver Medikamente zu reduzieren, Frühintervention bei unsachgemäßem Gebrauch zu starten und die Sorgfaltspflicht bei der  Verschreibung  psychoaktiver  Arzneimittel  durch  Mediziner  unter Einbeziehung aller beteiligten Berufsgruppen zu erhöhen. Darüber hinaus fordert die DHS eine aus Bundesmitteln geförderte Studie mit validen, nicht auf Schätzungen basierenden Zahlen und Daten zu Medikamentenkonsum und -abhängigkeit im Alter und deren Auswirkungen, Konsequenzen sowie Folgekosten.


Kirsten Sucker-Sket