DAZ aktuell

Die Umgehung der Preisbindung lässt sich gesetzlich verhindern

Künstlich inszenierter Grenzverkehr – wirklich eine Frage des EU-Binnenmarktes?

Frankfurt/M. | Sechs Wochen nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur deutschen Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel ist die Debatte über die Auswirkungen der eingetretenen Inländerdiskriminierung der deutschen Apotheken gegenüber Versandapotheken aus anderen Mitgliedstaaten voll entbrannt. Eine rechtliche Überlegung kam dabei bislang viel zu kurz, meint der Jurist Prof. Dr. Hilko J. Meyer von der Frankfurt University of Applied Sciences.
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Der Jurist Prof. Dr. Hilko J. Meyer schlägt eine Neuregelung des § 78 AMG vor, um die derzeitige Schieflage aufgrund des EuGH-Urteils zu beenden.

So naheliegend die Forderung nach einer Rückkehr zum Versandhandelsverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel auch ist, und so nachvollziehbar der Ruf nach anderen Alternativlösungen auch sein mag – als erstes müsste dem deutschen Gesetzgeber doch eigentlich daran gelegen sein, die Bestreitung seiner Zuständigkeit zur Regulierung des deutschen Sozial- und Gesundheitswesens durch den ­EuGH zurückzuweisen. Immerhin wurde gerade mit einem Taschenspielertrick ein vierzig Jahre altes zentrales Element der deutschen Gesundheitspolitik unter Berufung auf den Binnenmarkt gekippt, obwohl gerade der deutsche Arzneimittel- und Apothekenmarkt offener und wettbewerbsgeprägter ist, als die meisten ­anderen europäischen Märkte.

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Kurz rüber und gleich wieder zurück Arzneimittel müssen nur für eine „juristische Sekunde“ aus Deutschland exportiert werden, um anschließend unter Umgehung der deutschen Preisregeln wieder importiert werden zu können.

Ein Konstrukt zum Missbrauch der Warenverkehrsfreiheit

Einen juristischen Ansatzpunkt dafür bietet die Tatsache, dass der entschiedene Sachverhalt nichts mit dem Binnenmarkt zu tun hat, außer dass er konstruiert wurde, um Binnenmarktfreiheiten für ein Umgehungsgeschäft zu nutzen. Im Unterschied zum Mehrwertsteuerbetrug, bei dem grenz­überschreitender Geschäftsverkehr fingiert wird, um unionsrechtliche Rückerstattungsregeln auszunutzen, beruht das Geschäft der niederländischen „Europamarkteroberer“ darauf, künstlichen Grenzverkehr zu inszenieren, um die deutschen Preisregeln für Arzneimittel zu umgehen. Denn es geht bei dieser Geschäfts­idee allein um aus Deutschland stammende Arzneimittel, die nur für eine juristische Sekunde exportiert werden müssen, um beim Rückimport die Berufung auf die Warenverkehrsfreiheit zu ermöglichen. Einziger Wertschöpfungsfaktor dieses ansonsten volkswirtschaftlich sinnlosen Geschäftsmodells ist die Umgehung der unionsrechtlich in die Zuständigkeit der nationalen Gesundheitspolitik fallenden nationalen Preisregelungen für verschreibungspflichtige Arzneimittel durch Ausfuhr zwecks preislich privilegierter Rückeinfuhr.

Solche Praktiken stellen nach stän­diger Rechtsprechung des EuGH einen Missbrauch der Warenverkehrsfreiheit dar und fallen nicht unter den Schutz der Grundfreiheiten. Der grenzüberschreitende Vertrieb fällt nach dieser Rechtsprechung dann nicht unter den Schutz des freien Warenverkehrs, wenn sich aus objektiven Umständen ergibt, dass die betreffenden Erzeugnisse allein zum Zweck ihrer Wiedereinfuhr ausgeführt worden sind, um eine gesetzliche Regelung wie eine nationale Preisbindung zu umgehen (Urteile Leclerc u.a., Rn. 27; Deutscher Apothekerverband, Rn. 129). Bei Fertigarzneimitteln, die aus anderen Mitgliedstaaten direkt an deutsche Patienten geschickt werden, liegen in der auf den jeweiligen Empfängerstaat beschränkten Verkehrsfähigkeit der zugelassenen Packungen die objektiven Umstände, aus denen sich ergibt, dass die Arzneimittel allein zum Zweck der Umgehung der Preisvorschriften bei der Wiedereinfuhr ausgeführt wurden. Versandapotheken aus dem EU-Ausland dürfen aufgrund der unionsrechtlich verankerten Zulassungsregelungen nur dann zulassungspflichtige Arzneimittel direkt an Endverbraucher in Deutschland abgeben, wenn diese Mittel in Deutschland verkehrsfähig sind. Aus anderen Mitgliedstaaten stammende Arzneimittelpackungen ohne deutsche Zulassung, Kennzeichnung und/oder Packungsbeilage dürfen sie, ebenfalls im Einklang mit dem Unionsrecht, nur an pharmazeutische Unternehmer, Arzneimittelgroßhändler oder im Ausnahmefall an Apotheken oder andere in § 73 Arzneimittelgesetz (AMG) qualifizierte Empfänger liefern.

Vorschlag für eine Neuregelung

Eine solche Regelung wäre in § 78 AMG zu verankern und könnte wie folgt aussehen:

„Die Preise und Preisspannen gelten nicht für grenzüberschreitende Verkäufe innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes. Auf Arzneimittel nach Absatz 2 Satz 2, für die die Verordnung nach Absatz 1 Preise und Preisspannen bestimmt, sind bei grenzüberschreitenden Verkäufen innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes die Vorschriften über den einheitlichen Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers und den einheitlichen Apothekenabgabepreis anzuwenden, wenn sich aus objektiven Umständen ergibt, dass die betreffenden Arzneimittel allein zum Zwecke ihrer Wiedereinfuhr ausgeführt worden sind, um damit diese Vorschriften zu umgehen, insbesondere wenn Arzneimittel, die durch die zuständige Bundesoberbehörde zum Verkehr im Geltungsbereich dieses Gesetzes zugelassen sind oder die einer Genehmigung für das Inverkehrbringen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 unterliegen und nach § 10 für den Verkehr im Geltungsbereich dieses Gesetzes gekennzeichnet sind, im Wege des Versandes an den Endverbraucher das Arzneimittel nach § 73 Absatz 1 Nummer 1a in den Geltungsbereich dieses Gesetzes verbracht werden.“

Auf die objektiven Umstände kommt es an

In dem Verfahren des Deutschen Apothekerverbands gegen DocMorris hatte der EuGH 2003 zwar entschieden, dass die Annahme eines Missbrauchs die Identität von Exporteur und Importeur verlangt. Diese Einschränkung bezog sich jedoch auf das Verbot des Versandhandels und wurde damit begründet, dass dieses auch die aus anderen Mitgliedstaaten als dem Einfuhrstaat stammenden Arzneimittel betrifft (Urt. v. 11. Dezember 2003, Rn. 130, 131).

Für den Fall der Umgehung einer nationalen Preisvorschrift ergibt sich aus der Leclerc-Rechtsprechung dagegen, dass es nicht auf die Anzahl der beteiligten Akteure ankommt, sondern auf objektive Umstände, aus denen sich ergibt, dass die Waren allein zum Zwecke ihrer Wiedereinfuhr ausgeführt worden sind, um derartige Rechtsvorschriften zu umgehen. Dies ist bei den Versandapotheken aus dem EU-Ausland der Fall, weil hier die Ausfuhr der Arzneimittel allein durch den Wirtschaftsteilnehmer veranlasst wird, der auch die Wiedereinfuhr betreibt. Auf die Frage, ob die Ausfuhr durch den Wiedereinführer selbst oder in seinem Auftrag oder auf seine Bestellung durch einen Dritten durchgeführt wird, kommt es dabei nicht an.

Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung ist der deutsche Gesetzgeber unionsrechtlich befugt, die in Deutschland geltende Preisregelung ausnahmsweise auf Arzneimittel anzuwenden, bei denen sich aus objektiven Umständen ergibt, dass die betreffenden Erzeugnisse allein zu dem Zweck ausgeführt worden sind, bei ihrer Wiedereinfuhr die nationale Preisbindung zu umgehen.

Parallele zur Buchpreisbindung

Eine solche Regelung widerspricht nicht dem Urteil des EuGH vom 19. Oktober 2016, weil sie keine auf den Gesundheitsschutz gestützte generelle Erstreckung der Preisbindung auf ­importierte Arzneimittel vorsieht, sondern nur einen aus objektiven Umständen hervorgehenden Umgehungstatbestand erfasst. Die unionsrecht­liche Unbedenklichkeit der vorgeschlagenen Regelung ergibt sich im Übrigen auch aus den von der Kommission anerkannten Ausnahmeregelungen zur grenzüberschreitenden Buchpreisbindung, die sich ebenfalls auf die zitierte Rechtsprechung stützen und bei denen der Miss­brauchs­tatbestand ebenfalls nicht auf die Identität von Exporteur und Importeur begrenzt ist. Dieser Vorschlag ist nicht neu (vgl. Meyer in: Wartensleben (Hrsg.), Festschrift für Axel Sander, Frankfurt 2008, S. 224f.). 2012 legte der Bundesverband der klinik- und heimversorgenden Apotheken einen entsprechenden Änderungsvorschlag zum Referentenentwurf für ein Zweites Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vor, um unionsrechtlichen Bedenken gegen die damals eingeführte und nunmehr vom EuGH kassierte Preis­regelung zu begegnen.

Ebenso wie die hier vorgeschlagene Änderung des § 78 AMG, beruhten diese Vorschläge auf § 4 des Buchpreisbindungsgesetzes in seiner 2000 eingeführten Fassung. In der amtlichen Begründung hieß es damals, dass dieser Paragraf im Einklang mit dem Leclerc-Urteil einen Schutz der nationalen Buchpreisbindung vor Umgehungsgeschäften vorsehe und sein Wortlaut diesem Urteil sehr eng folge. Ein Fall nach § 4 Abs. 2 Buchpreisbindungsgesetz (BuchPrG) könne insbesondere dann vorliegen, wenn jemand Bücher in einen ausländischen Staat ausführt oder dies veranlasst, um diese später aufgrund eines einheitlichen Plans von dort selbst oder durch ein verbundenes Unternehmen an Letztabnehmer in Deutschland zu verkaufen (BT-Drs. 14/9196, S. 10).

Bleibt zu prüfen, ob die vor 16 Jahren eingeführte Fassung des § 4 Abs. 2 BuchPrG noch aktuell ist. Und in der Tat ist festzustellen, dass der Import-Paragraf durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Buchpreisbindungsgesetzes vom 31. Juli 2016 komplett gestrichen wurde. Er ist jedoch keineswegs ersatzlos entfallen, ganz im Gegenteil: Seit dem 1. September 2016 gilt eine generelle Erstreckung der deutschen Buchpreisbindung auf alle an Letztabnehmer in Deutschland verkauften Bücher. Erfasst wird seitdem sogar der Download von E-Books durch deutsche Kunden von ausländischen Internetplattformen. In der amtlichen Begründung des Gesetzes wird darauf verwiesen, dass diese Neuregelung der Buchpreisbindung der Wahrung der Wirtschaftseinheit und dem Schutz des Kulturgutes Buch diene. Es liege im gesamtstaatlichen Interesse, dass weiterhin einheitliche Bedingungen für den Vertrieb von Büchern an Letztverbraucher in Deutschland gelten. Es gehe um den Erhalt eines breiten Buchangebots und das Zugänglichmachen der Bücher für alle Letztverbraucher in Deutschland. Der Schutz des Kulturguts Buch setze das Bestehen eines leistungsfähigen Buchmarktes voraus. Die Existenz einer Vielzahl kleiner und mittlerer Verlage und eines dichten Netzes von Buchhandlungen gewährleiste die Verfügbarkeit eines vielfältigen Buchangebots. Zudem könnten Bücher verlegt werden, die zwar von vornherein nur eine niedrige Auflage erwarten lassen, jedoch einen hohen kulturellen Wert besitzen. Das Gesetz sei mit dem EU-Recht vereinbar. Der Schutz des Buches als Kulturgut sei als ein zwingender Grund des Allgemeininteresses in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt. Eine etwaige Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit bzw. der Dienstleistungsfreiheit im Falle des grenzüberschreitenden gewerbs- oder geschäftsmäßigen Verkaufs an Letztabnehmer in Deutschland könne daher unionsrechtlich gerechtfertigt werden (BT-Drs. 18/8043, S. 6f.).

Notifizierungsverfahren ohne Einwände

Am 26. Juni 2016 ging die Notifizierung des Gesetzentwurfs bei der Europäischen Kommission ein, die bis zum Ablauf der Stillhaltefrist am 27. Oktober 2016 keine Bedenken oder Einwände erhob.

Dass sich der deutsche Gesetzgeber mit Billigung der EU-Kommission noch im Sommer 2016 in der Lage sah, die uneingeschränkte Geltung der Buchpreisbindung für den Verkauf an Letztabnehmer in Deutschland einzuführen, unterstreicht, dass keine stichhaltigen Rechtsbedenken gegen die hier vorgeschlagene Regelung geltend gemacht werden können. Der ihr zugrundeliegende § 4 Abs. 2 BuchPrG a. F. ist erheblich weniger restriktiv als das novellierte Buchpreisbindungsgesetz. Im Sinne eines argumentum a maiore ad minus ist der hier vorgelegte Vorschlag daher erst Recht mit der deutschen Verfassung und dem europäischen Unionsrecht vereinbar. |

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